Gianni Celati - Was für ein Leben!

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Der große Geschichtenerzähler Gianni Celati kehrt nach Italien zurück und stellt uns sein Volk vor: mit all seinen Eigenarten, Verrücktheiten und Sonderbarkeiten, für die wir es lieben.
Wie in einer Vorabendserie reiht Gianni Celati Episoden aneinander: Personen treten auf und wieder ab, ihre Lebensläufe werden miteinander verflochten.
Weil aber dahinter kein Serienschreiber steht, sondern ein Schriftsteller auf der Höhe seiner Kunst, entsteht aus den kleinen und großen Dramen des Alltags ein Panorama der italienischen Charaktere und Eigenarten: von den obligaten Ferien am Meer, von der resoluten Mutter und dem verwirrten Sohn, der missglückten Liebesgeschichte der Urania, den herumlungernden Rentnern, nicht zu vergessen den «ewigen Kapitalisten» und ihrem Gegenstück, den Kommunisten, dazwischen die guten Ratschläge der katholischen Kirche.
Erzählungen von tiefer, ernster Komik, auf eigene Faust erfunden und doch ganz und gar wahr, wie sie dem unvergesslichen Totò oder Federico Fellini gefallen hätten.

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Die Erzählungen wurden von Gianni Celati für diese Ausgabe zusammengestellt. Leben auf der Weide , Ein modernen Held und Eine Episode aus dem Leben des Schriftstellers Virgilio Tritone erschienen erstmals auf Italienisch unter dem Titel Vite di pascolanti 2006 bei edizioni nottetempo in Rom. Diese und die übrigen Erzählungen wurden in den beiden Bänden Costumi degli italiani, Band 1: Un eroe moderno, Band 2: Il benessere arriva in casa Pucci 2008 bei quodlibet in Macerata veröffentlicht.

E-Book-Ausgabe 2020

© 2008 quodlibet, Macerata

© 2008 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin.

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Photographie © corbis.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4293 1

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3219 2

www.wagenbach.de

Leben auf der Weide

In seiner Jugend war Pucci schmächtig, schüchtern und schlecht angezogen und er ging mit gesenktem Kopf, der schief auf eine Seite hing, seiner Wege. Vielleicht hielt er seinen Kopf so, weil sein Gehirn nicht im Lot war, wie sein Vater sagte. Die erste Zeit seines Lebens, die mir in den Sinn kommt, ist die, als er in der Schule, in die auch ich ging, zum dritten Mal in derselben Klasse durchfiel.

Der Bau muss früher einmal ein Gefängnis oder ein Kloster gewesen sein, und im ersten Stock befand sich ein großer Salon mit Fresken an der Decke, die dort oben in der Höhe die Arbeiten des Herkules zeigten. An den zwei Längsseiten dieses Raumes, den ich Salon genannt habe, waren die Türen der Klassenzimmer. Jede Klasse eingesperrt in ihr Zimmer, durch die Fenster sah man nicht den Himmel, sondern andere Fenster anderer Zimmer, in die andere Klassen eingesperrt waren. Die Mädchen saßen immer in den vorderen Bänken, weil sie besser waren als die Jungen, abgesehen von einigen Jungen, die so gut waren wie die Mädchen. Ah, die Köpfe da vorne mit den immer gehobenen Fingern, um was zu sagen! Diese Finger erinnerten an Hunde, die sich auf die Hinterpfoten stellen, um ihrem Herrchen zu gefallen. Pucci hat nie den Finger gehoben, nicht ein einziges Mal in seinem Leben, und er versteckte sich in der letzten Bank, weil er nichts zu sagen hatte.

Am ersten Schultag waren wir alle wie Kugeln, die ziellos über einen Billardtisch rollten, der eine ein bisschen früher, der andere ein bisschen später, nach der Reihenfolge der Ankunft in den Bänken. Aber Pucci stellte fest, dass die Schüler, die sich in die vorderen Bänke gesetzt hatten, diejenigen waren, die in der Schule gut vorwärts kamen, und die Schüler, die sich in die hinteren Bänke gesetzt hatten, diejenigen waren, die im Lernen zurückblieben. Er saß in der letzten Bank neben einem Mitschüler namens Bordignoni, und sie waren die schlechtesten der ganzen Schule, ich übertreibe nicht. Haben sich die beiden je gefragt, was sie eigentlich da machten? Sie haben es sich nie gefragt. Pucci erschien die Schule als ein wunderlicher Ort, ein sehr wunderlicher, angefangen beim Namen: Humanistisches Gymnasium. Bordignoni war nicht einmal das aufgefallen und er sagte, er sei hier wegen eines Irrtums seiner Mama, die ihn in eine technische Fachschule habe einschreiben wollen, sich aber im Eingang getäuscht habe.

In dem Sommer, als Pucci zum dritten Mal durchfiel, besuchte er öfter seine Mitschülerin Veratti. Schönwetterlage, die Ferien waren gekommen, und jeder Schüler ging in Freiheit, wohin er wollte. Aber wenn es etwas gab, das Pucci klar erkannt hatte, war es das, dass er nicht kapierte, wozu die Schule gut ist, und infolgedessen auch nicht, wozu die Schulferien gut sein sollten. Das Einzige, was ihm gefiel, war, den ganzen Tag ziellos durch die Straßen zu streichen, dabei langsam mit den Füßen zu schleifen und manchmal stehen zu bleiben, um an der Fassade eines Hauses hochzuschauen. Und wie er so durch die Stadt ging, gelangte er in eine Straße mit Arkaden aus umgekehrten Us und dort wohnte die Veratti aus seiner Klasse.

Das Haustor aus dunklem Holz, Marmortreppen, dritter Stock, ein Stubenmädchen mit Spitzenrüschen machte die Tür auf. Die Veratti war eine, die in der Schule sehr gut war, während man Pucci nicht mehr an der Schule behalten wollte. Aber ihr war dieser streunende Mitschüler irgendwie sympathisch, der plötzlich vor der Tür stand, ohne je eingeladen worden zu sein; unter anderem passte er ihrer Mutter nicht, einer Dame mit abgenutzten Nerven, welcher der rechte Mundwinkel lahmte, wenn sie Pucci zulächeln musste. Doch die Tochter empfing ihn über das ganze Gesicht lächelnd, dass einem das Herz weit wurde, und dann spielte sie Klavier, damit er hören konnte, wie gut sie spielte.

Die Mitschülerin Veratti, von allen ein hübsches Mädchen genannt, stand fest auf ihren Beinen und hatte abgesehen davon, dass sie Klavier spielte und in der Schule gut war, noch eine Spezialität: ein strahlendes Lächeln, anstandshalber. Was in der damaligen Zeit großen Eindruck machte, denn wir wussten noch nicht, dass man einfach so lächeln kann wegen nichts und wieder nichts. Deswegen stellte man sich weißgottwas vor, weil man dachte, man sei ihr wunder wie sympathisch, während sie einen vielleicht nie angeschaut hatte. Vielleicht ging Pucci zu ihr, weil auch er auf diesen Zauber hereingefallen war? Kann sein. Er hörte ihr beim Klavierspielen zu, und wenn sie zu Ende gespielt hatte, ging er wieder weg, ohne ein Wort gesagt zu haben. Anzumerken ist auch: Puccis Eltern freuten sich, dass ihr Sohn von der Mitschülerin Veratti zu Hause empfangen wurde, denn der Papa der Veratti war Diplomingenieur Veratti.

Der beste Freund Puccis war in diesem Augenblick der Entwicklung seines Lebens Bordignoni. Es war Bordignoni, der ihm die berühmte Feststellung eingegeben hatte: Ist einer mal geboren, dann ist ihm schon der größte Teil von dem passiert, was ihm im Leben passieren wird. Das verstand man gut, wenn man Bordignoni anschaute, denn er war am ganzen Körper gewaltig, er hatte gewaltige Zähne, eine gewaltige Stirn, eine gewaltige Nase, gewaltige Augen, gewaltige Hände, Füße wie zwei Schaufeln, einen Hals, den man nicht von den Schultern unterscheiden konnte, so gewaltig war er. Außerdem hingen ihm die Lider immer halb über die Augen, den Himmel konnte Bordignoni also nicht sehen. Ich kann mir nicht vorstellen, warum auch er zur Veratti gehen wollte. Vielleicht war es auch bei ihm wegen des strahlenden Lächelns anstandshalber, das schon viele von uns verhext hatte, und ihn, den Jungen aus dem Arbeiterviertel Mame, erst recht beeindrucken musste.

Das Lächeln anstandshalber brachte Bordignoni ganz aus der Fassung, denn es war für ihn eine absolute Neuheit, wie, sagen wir, das Telefon für die Einwohner von Papuasien. Jedenfalls ging er nur einmal zur Veratti, denn sie fand ihn zu gewaltig und konnte es nicht ausstehen, dass er jedes Mal, wenn etwas seine Phantasie beeindruckte, seinen Lieblingsausruf hören ließ. Die Sonne schien durch die schönen Leinenvorhänge in die Wohnung der Veratti und Bordignoni sagte: »Leckmichdoch, so eine Sonne!« Um ins Klavierzimmer zu kommen, musste man auf Filzstücken über die gewachsten Böden schleifen, und Bordignoni sagte: »Leckmichdoch, ist das rutschig!« Auch als er der Veratti beim Klavierspielen zuhörte, hatte er gesagt: »Leckmichdoch, du spielst aber gut!« Damit war er verurteilt, und nachher musste Pucci allein zur Veratti gehen.

Nachmittags weideten Pucci und Bordignoni auf den Straßen, aber sie wussten nie wohin. Sie gingen, wohin sie ihre Schuhe trugen, und Pucci sagte nie ein Wort. Bordignoni dagegen wiederholte andauernd seinen Lieblingsausruf: Leckmichdoch hier, Leckmichdoch da, bei allem, was er unterwegs sah. So war es immer, trotz der halb heruntergelassenen Augenlider, die ihm einen guten Teil des Panoramas verdeckten. Eines Tages wussten sie nicht, wohin sie gehen sollten, und so beschlossen sie, den Trambahnschienen zu folgen, auf Straßen, die aus der Stadt hinausführten: nie gesehene Viertel, Gärten mit großen Bäumen, Vorstadthäuschen, Radler, vorbeifahrende Laster. Sie gingen und gingen, aber die Trambahnschienen hörten nicht auf, und Bordignoni sagte: »Leckmichdoch, wo gehen wir eigentlich hin?« Ich kann mich aber nicht erinnern, wie dieses sommerliche Abenteuer ausgegangen ist.

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