»Mr. Clennam, Fanny. Meine älteste Tochter und mein Sohn, Mr. Clennam. Die Glocke ist ein Zeichen für die Fremden, daß sie das Gefängnis zu verlassen haben, deshalb kommen sie, um Abschied zu nehmen; aber es ist noch reichlich Zeit, reichlich Zeit, Mädchen. Mr. Clennam wird entschuldigen, wenn ihr Haushaltungsgeschäfte hier besorgt. Er weiß ohne Zweifel, daß ich nur ein Zimmer habe.«
»Ich brauche nur mein reines Kleid von Amy, Vater«, sagte das andere Mädchen.
»Und ich meine Wäsche«, sagte Tip.
Amy öffnete die Schublade eines alten Möbels, das oben ein Weißzeugschrank war und unten eine Bettstatt bildete, und nahm zwei kleine Bündel heraus, die sie ihrem Bruder und ihrer Schwester gab. »Ist es ausgebessert und zusammengenäht?« hörte Mr. Clennam die Schwester flüsternd fragen, worauf Amy »Jas antwortete. Er war nun aufgestanden und nutzte die Gelegenheit, sich im Zimmer umzusehen. Die nackten Wände waren früher, wie man noch erkennen konnte, von einer ungeschickten Hand grün angestrichen worden und spärlich mit ein paar Stichen geschmückt. Das Fenster war mit einem Vorhang, der Boden mit einem Teppich versehen; auch Ständer und Kleiderhaken und andre dergleichen Bequemlichkeiten hatten sich im Laufe der Jahre angesammelt. Es war ein kleines, beschränktes, ärmlich möbliertes Zimmer, und der Kamin rauchte überdies, sonst wäre der blecherne Windschirm am Feuerherd überflüssig gewesen; aber andauernde Sorgfalt und Mühe hatten es hübsch und in seiner Art sogar behaglich gemacht.
Die Glocke läutete noch immer, und der Onkel wünschte endlich zu gehen. »Komm, Fanny, komm, Fanny«, sagte er mit seiner zerfetzten Klarinettkapsel unter dem Arm; »es wird geschlossen, Kind, es wird geschlossen!«
Fanny bot ihrem Vater gute Nacht und flog federleicht fort. Tip war die Treppe schon hinabgeeilt. »Mr. Clennam«, sagte der Onkel, indem er zurücksah, während er ihnen nachschlürfte, »es wird geschlossen, Sir, es wird geschlossen.«
Mr. Clennam hatte zweierlei zu tun, ehe er folgte; erstens dem Vater des Marschallgefängnisses seine Anerkennung auszusprechen, ohne das Kind zu kränken; und dann dem Kinde etwas – nur ein einziges Wort – zur Erklärung seines Hierherkommens zu sagen.
»Erlauben Sie mir«, sagte der Vater, »Sie die Treppe hinabzubegleiten.«
Sie war hinter den andern hinausgeschlüpft, und der Vater und der Fremde waren allein. »Unter keiner Bedingung«, sagte der Fremde rasch. »Bitte, erlauben Sie mir –« kling, kling, kling.
»Mr. Clennam«, sagte der Vater, »ich bin tief, tief –« Aber der Fremde hatte seine Hand geschlossen, um dem Klingen ein Ende zu machen, und war mit großer Hast die Treppe hinabgeeilt.
Er sah keine Klein-Dorrit auf dem Weg oder im Hof drunten. Die letzten zwei oder drei Nachzügler eilten nach dem Pförtnerstübchen, und er folgte ihnen, als er plötzlich im Torweg des ersten Hauses vom Eingang ihrer gewahr wurde. Er kehrte rasch zurück.
»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie hier anspreche«, sagte
Arthur neben Klein-Dorrit beim Besuch des Marschallgefängnisses.
er; »ich bitte um Entschuldigung, daß ich überhaupt hierher gekommen! Ich folgte Ihnen heute abend. Ich tat es in der Absicht, zu sehen, ob ich nicht Ihnen und Ihrer Familie irgendeinen Dienst erweisen könnte. Sie wissen, wie ich mit meiner Mutter stehe, und werden es nicht befremdlich finden, daß ich mich Ihnen nicht genähert habe in ihrem Hause, da ich sie dadurch hätte ohne Absicht leicht eifersüchtig oder empfindlich machen oder Ihnen gar in ihrer Achtung eine Kränkung zufügen können. Was ich hier in dieser kurzen Zeit gesehen, hat den herzlichen Wunsch, Ihnen ein Freund zu werden, bedeutend vermehrt. Es würde mir für manche Enttäuschung Ersatz bieten, wenn ich hoffen könnte, Ihr Vertrauen zu gewinnen.«
Sie war anfangs sehr scheu, schien jedoch Mut zu fassen, während er mit ihr sprach.
»Sie sind sehr gut, Sir. Sie sprechen sehr ernst mit mir. Aber – ich wünschte. Sie hätten mich nicht beobachtet.«
Er wußte die Bewegung, mit der sie dies sagte, zu ihres Vaters Gunsten zu deuten, und er respektierte dieses Gefühl und schwieg.
»Mrs. Clennam hat mir große Gefälligkeiten erwiesen; ich weiß nicht, was aus uns ohne die Arbeit geworden wäre, die sie mir gegeben; ich fürchte, es ist keine gute Vergeltung, Geheimnisse vor ihr zu haben; ich kann heute abend nicht mehr sagen, Sir. Ich bin überzeugt, Sie meinen es gut mit uns. Ich danke Ihnen herzlich dafür.«
»Gestatten Sie mir nur eine Frage, ehe ich gehe. Kennen Sie meine Mutter schon lange?«
»Ich glaube, zwei Jahre, Sir. – Die Glocke hat zu läuten aufgehört.«
»Wie lernten Sie sie kennen? Schickte sie nach Ihnen?«
»Nein. Sie weiß nicht einmal, daß ich hier wohne. Wir haben einen Freund, Vater und ich – einen armen, fleißigen Mann, aber der beste Freund –, und ich schrieb aus, daß ich im Taglohn zu nähen wünsche, und gab seine Adresse an. Und er ließ, was ich geschrieben, an einigen Orten anschlagen, wo es nichts kostete, und Mrs. Clennam fand auf diese Weise meinen Namen und schickte nach mir. Das Tor wird geschlossen werden, Sir.«
Sie war so unruhig und aufgeregt, und er von Teilnahme für sie und durch das lebhafte Interesse für ihre Lebensgeschichte, wie sie sich vor ihm entfaltete, so tief bewegt, daß er sich kaum losreißen konnte. Aber das Aufhören des Geläutes und die Stille im Gefängnis waren eine Mahnung zum Aufbruch, und mit einigen flüchtigen freundlichen Worten ließ er sie zu ihrem Vater zurückkehren.
Aber er hatte zu lange verweilt, das innere Tor war verriegelt und das Pförtnerstübchen geschlossen. Nach kurzem fruchtlosen Pochen mit der Hand stand er mit der unangenehmen Ueberzeugung da, daß er die Nacht hier zubringen müsse, als ihn eine Stimme von hinten anredete:
»Gefangen, Mr.?« sagte die Stimme, »Sie werden vor morgen früh nicht nach Hause kommen. – Oh! sind Sie es, Mr. Clennam?«
Es war Tips Stimme, und sie standen sich noch im Gefängnishof gegenüber, als es zu regnen begann.
»Es ist nun schon geschehen«, bemerkte Tip: »Sie müssen das nächste Mal pünktlicher kommen.«
»Aber Sie sind ja auch eingeschlossen«, sagte Arthur.
»Ich glaube allerdings«, sagte Tip sarkastisch. »Ungefähr, aber nicht ganz wie Sie. Ich gehöre zu der Bude; meine Schwester meint freilich, der Alte dürfe es nicht wissen. Ich sehe aber nicht ein, weshalb.«
»Kann ich hier irgendein Quartier finden?« fragte Arthur. »Was soll ich sonst machen?«
»Wir sollten vor allem Amy zu sprechen suchen«, sagte Tip, der gewohnt war, alle Schwierigkeiten auf sie abzuladen.
»Ich würde lieber die ganze Nacht hier herumgehen – es läßt sich ja doch sonst nichts tun –, als sie zu beunruhigen.«
»Sie brauchen das nicht zu tun, wenn Ihnen nichts daran liegt, ein Bett zu bezahlen. Wenn Ihnen nichts daran liegt, zu bezahlen, so werden sie Ihnen unter solchen Umständen eines auf dem Snuggerytisch zurechtmachen. Wenn Sie mir folgen wollen, werde ich Sie dort einführen.«
Als sie den Hof hinabgingen, sah Arthur zu dem Fenster des Zimmers hinauf, das er kürzlich verlassen und wo noch Licht brannte.
»Ja, Sir!« sagte Tip, der seinem Blick folgte. »Das ist das Zimmer unsres alten Herrn, Sie sitzt noch eine Stunde lang bei ihm und liest ihm die Zeitungen von gestern oder etwas der Art vor; und dann kommt sie heraus wie ein kleiner Geist und verschwindet geräuschlos.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Der Alte schläft droben in dem Zimmer, aber sie hat ihre Wohnung bei dem Schließer, das erste Haus das, sagte Tip und deutete auf den Torweg, in den sie sich zurückgezogen. »Das erste Haus, in der Dachkammer. Sie bezahlt zweimal so viel dafür, als sie für ein zweimal so gutes Zimmer außerhalb des Gefängnisses bezahlen müßte. Aber sie will Tag und Nacht bei dem Alten sein, das arme gute Mädchen.«
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