Die Mauern standen sich so nahe gerückt und die wilden Wolken eilten so rasch darüber hin, daß es ihm das Gefühl herannahender Seekrankheit gab, wenn er zum stürmischen Himmel emporblickte. Der Regen, der durch Windstöße in die Quere getrieben wurde, schwärzte die Wand des Hauptgebäudes, das er in der letzten Nacht besucht, ließ jedoch unter dem Lee der Mauer einen Raum trocken, wo er unter Stroh, Kehricht, Papierschnitzeln, dem verlorenen Getröpfel der Pumpe und den zerstreuten Gemüseabfällen von gestern auf und ab wallte. Es war ein so häßliches Lebensbild, wie man es sich nur denken kann.
Kein Schimmer des kleinen Geschöpfes, das ihn hierhergeführt, erhellte dieses Nachtbild. Vielleicht schlich sie aus ihrem Torweg in den, wo ihr Vater wohnte, während sein Gesicht von beiden abgewandt war. Aber er sah nichts von ihr. Es war zu früh für ihren Bruder; wer ihn einmal gesehen, hatte genug von ihm gesehen, um zu wissen, daß er zu träg war aufzustehen, mochte sein Bett, in dem er die Nacht zubrachte, auch noch so muffig sein. So sann Arthur Clennam, während er das Öffnen des Tores erwartend auf und nieder ging, mehr auf Mittel für die Fortsetzung seiner Nachforschungen, die er in Zukunft, als die er in der nächsten Gegenwart ins Werk setzen wollte.
Endlich bewegte sich die Tür des Pförtnerstübchens in den Angeln, und der Schließer, der seine Haare kämmend auf der Schwelle stand, war bereit, ihn hinauszulassen. Mit dem angenehmen Gefühl des Freiwerdens schritt er durch das Pförtnerstübchen und sah sich wieder in dem kleinen Vorhof, wo er vergangenen Abend den Bruder angeredet.
Von verschiedenen Seiten kamen bereits Menschen herbei, die unschwer als die noch unbeschriebenen Boten, Ausläufer und Unterhändler des Gefängnisses zu erkennen waren. Einige von ihnen hatten in dem Regen gelungert, bis das Tor sich öffnete. Andere, die ihre Ankunft mit größter Genauigkeit berechnet, waren nun gerade im Anzug und gingen mit feuchten, weißlich braunen Papiertüten vom Gewürzkrämer, Brotlaiben, Stücken Butter, Eiern, Milch und dergleichen in das Gefängnis. Die Lumpigkeit dieser Diener der Lumpigkeit, die Armut dieser zahlungsunfähigen Aufwärter der Zahlungsunfähigkeit war ein interessanter Anblick. Solche fadenscheinige Röcke und Hosen, solche muffige Kleider und Tücher, solche zerknüllte Hüte und Hauben, solche Stiefel und Schuhe, solche Schirme und Stöcke hatte man auf dem Trödelmarkt nie gesehen. Sie alle trugen die weggeworfenen Kleider anderer Männer und Frauen. Diese Kleider waren zusammengesetzt aus den Lappen und Stücken der Individualität anderer Leute und hatten keine eigne Existenz. Ihr Gang war der Gang einer ganz merkwürdigen Rasse. Sie hatten eine ganz eigentümliche Art, wie die Hunde um die Ecke zu schleichen, als ob sie beständig zu den Pfandleihern gingen. Wenn sie husteten, husteten sie wie Leute, die gewohnt sind, auf Türschwellen und in zugigen Gängen die Antwort auf Briefe zu erwarten, die mit blasser Tinte geschrieben sind und den Empfängern große geistige Unruhe bereiten und wenig Befriedigung gewähren. Wenn sie den Fremden im Vorübergehen betrachteten, betrachteten sie ihn mit bittenden Augen – hungrig, scharf, auf seine Güte spekulierend, als wenn sie auf ihn angewiesen wären, und auf die Wahrscheinlichkeit, daß etwas Schönes ihrer warte. Die Bettelei aus Auftrag bückte sich in ihren hohen Schultern, schlenkerte in ihren unsteten Beinen, knöpfte, band, stopfte und schleppte ihre Kleider, rieb ihre Knopflöcher ab, hing in kleinen schmutzigen Bandenden aus ihrem Anzug hervor und drang in Atem, der nach Alkohol roch, aus ihrem Munde.
Als diese Leute an ihm vorübergingen, während er noch in dem Vorhof stand, und einer von ihnen zurückkehrte, um ihn zu fragen, ob er ihm nicht zu Dienst sein könne, kam Arthur auf den Gedanken, er wolle noch einmal mit Dorrit sprechen, ehe er wegging. Sie würde sich wohl von ihrer ersten Überraschung erholt haben und sich ihm gegenüber unbefangener fühlen. Er fragte dies Glied der Brüderschaft (das zwei Bücklinge in der Hand und ein Brot und eine Stiefelbürste unter dem Arm trug), wo man in der Nähe eine Tasse Kaffee bekommen könne. Der Unbeschriebene antwortete in ermutigenden Worten und brachte ihn nach einer Kaffeewirtschaft, die nur einen Steinwurf entfernt war. »Kennt Ihr Miß Dorrit?« fragte der neue Klient.
Der Unbeschriebene kannte zwei Miß Dorrit; eine, die im Gefängnis geboren worden – das war sie! Das war sie! Der Unbeschriebene kannte sie seit vielen Jahren. Was die andre Miß Dorrit betraf, so wohnte der Unbeschriebene in demselben Hause mit ihr und ihrem Oheim.
Dies änderte den beinahe gefaßten Entschluß des Klienten, in der Kaffeewirtschaft zu bleiben, bis der Unbeschriebene ihm melde, daß Dorrit nach der Straße herauskomme. Er betraute den Unbeschriebenen mit einer vertraulichen Botschaft des Inhalts an sie, daß der Fremde, der vergangenen Abend ihrem Vater einen Besuch abgestattet hatte, um die Gunst einiger Worte in ihres Onkels Wohnung bitte. Er erhielt von derselben Quelle die genaueste Auskunft über die Lage des Hauses, das sehr nahe war, entließ den Unbeschriebenen mit dem Geschenk einer halben Krone und eilte, nachdem er sich rasch in der Kaffeewirtschaft erfrischt, nach der Wohnung des Klarinettisten.
Es wohnten so viele Leute in dem Hause, daß der Türpfosten so voll von Glockengriffen schien, wie die Kathedralorgel von Registern. Ungewiß, welches das Klarinettregister sei, war er noch in Erwägung dieser Frage begriffen, als ein Federball aus dem Parterrezimmer flog und ihm den Hut vom Kopf warf. Er bemerkte dann, daß an dem Parterrefenster ein Schirm mit der Aufschrift war: Mr. Cripples' Akademie ; und in einer zweiten Linie stand: Abendunterricht . Hinter dem Fensterschirm befand sich ein kleiner blasser Knabe mit einer Butterbrotschnitte und einer Kinderfibel. Das Fenster war vom Fußweg aus erreichbar; er sah über den Fensterschirm, warf den Federball wieder hinein und stellte seine Frage.
»Dorrit?« sagte der kleine blasse Knabe (Master Cripples selbst). »Mr. Dorrit? Dritte Glocke und einmal klopfen.«
Die Zöglinge von Mr. Cripples schienen ein Diktatheft aus der Straßentür gemacht zu haben, so war sie über und über mit Bleistift beschmiert. Die zahlreichen Inschriften »der alte Dorrit« und »der schmutzige Dick« schienen Persönlichkeiten für die Zöglinge Mr. Cripples' zu sein. Es war reichlich Zeit zu diesen Beobachtungen, ehe die Tür von dem alten Manne selbst geöffnet wurde.
»Ach«, sagte er, sich sehr langsam auf Arthur besinnend, »Sie wurden vergangene Nacht eingeschlossen?«
»Ja, Mr. Dorrit. Ich hoffe, Ihre Nichte hier bei Ihnen sprechen zu können.«
»Oh!« sagte er nachdenkend. »Nicht bei meinem Bruder? Gut. Wollen Sie heraufkommen und auf sie warten?«
»Ich danke.«
So langsam sich umwendend, wie er alles in seinem Kopfe bewegte, was er hörte und sagte, führte er den Fremden die schmalen Treppen hinauf. Das Haus war sehr verschlossen und hatte einen dumpfigen Geruch. Die kleinen Treppenfenster sahen in die hinteren Fenster der andern ebenso dumpfigen Häuser, an denen Stangen und Stricke befestigt waren, worauf traurig aussehendes Linnen hing, als wenn die Bewohner nach Kleidern angelten und hätten einige elende Köder gehabt, die man kaum beachtet. In einer hinteren Bodenkammer – einem ungesunden Gemach mit einem Umschlagbett, das kaum erst und so in der Eile umgeschlagen sein mußte, daß die Pfühle noch hervorquollen und sozusagen das Augenlid offenzuhalten schienen – in diesem Gemach stand ein, halbbeendigtes Frühstück von Kaffee und gerösteten Brotschnitten für zwei Personen auf einem elenden Tische unordentlich durcheinander.
Es war niemand da. Der alte Mann, der nach einigem Bedenken vor sich hinmurmelte, daß Fanny davongelaufen, ging nach dem nächsten Zimmer, um sie zurückzuholen. Der Fremde, der bemerkte, daß sie die Tür von innen festhielt, und daß, als der Onkel sie aufzuziehen suchte, ihn jemand laut beschwor: »Laßt doch gehen!« während schlaffe Strümpfe und Flanellröcke umherlagen, schloß, daß das junge Mädchen im Negligé sei. Der Onkel, der keinen Schluß zu ziehen schien, schlürfte wieder herbei, setzte sich auf seinen Stuhl und begann die Hände an dem Feuer zu wärmen. Nicht daß es kalt gewesen oder daß er eine dunkle Vorstellung von Wärme und Kälte in diesem Augenblick gehabt – er tat es unbewußt.
Читать дальше