Sie erschrak und wurde bald rot, bald blaß. Der Fremde forderte sie mehr durch seine Blicke als durch seine leichte Handbewegung auf, sich zu beruhigen und ihm zu vertrauen.
»Ich fand diesen Herrn«, sagte der Onkel, »Mr. Clennam, den Sohn von Amys Gönnerin – an dem äußeren Tor, in der Absicht begriffen, im Vorübergehen seinen Besuch abzustatten, unschlüssig jedoch, ob er hereingehen sollte oder nicht. Dies ist mein Bruder William, Sir.«
»Ich hoffe«, sagte Arthur, ungewiß, was er sagen sollte, »daß meine Achtung für Ihre Tochter meinen Wunsch, Sie kennenzulernen, erklären und rechtfertigen wird.«
»Mr. Clennam«, versetzte der andere, indem er aufstand, seine Mütze abnahm und sie in der Hand hielt, bereit sie wieder aufzusetzen, »Sie erweisen mir eine Ehre. Seien Sie willkommen, Sir.« Dabei machte er eine tiefe Verbeugung. »Frederik, einen Stuhl. Bitte, setzen Sie sich, Mr. Clennam.«
Er setzte seine schwarze Kappe auf, wie er sie abgenommen, und ließ sich wieder am Tische nieder. Es lag etwas eigentümlich Wohlwollendes und Herablassendes in seinem Wesen. Das waren die Zeremonien, mit denen er die Mitgefangenen gewöhnlich empfing.
»Seien Sie willkommen im Marschallgefängnis, Sir. Ich habe manchen Gentleman in diesen Mauern bewillkommt. Vielleicht wissen Sie bereits – meine Tochter Amy hat es Ihnen ohne Zweifel mitgeteilt –, daß ich der Vater dieses Hauses bin.«
»Ich – ja allerdings habe ich das gehört«, sagte Arthur, keck diese Behauptung aussprechend.
»Sie wissen ohne Zweifel ferner, daß meine Tochter Amy hier geboren ist. Ein gutes Mädchen, Sir, ein liebes Mädchen, und seit lange ein Trost und eine Stütze für mich. Amy, mein liebes Kind, setze das Essen auf; Mr. Clennam wird die einfachen Gewohnheiten,
Die Entdeckung des Geheimnisses von Klein-Dorrit.
auf die wir hier angewiesen sind, entschuldigen. Darf ich Sie fragen, ob Sie mir die Ehre geben wollen, Sir, –«
»Ich danke«, erwiderte Arthur. »Nicht einen Bissen.«
Er war lauter Staunen über das Benehmen des Mannes, der gar nicht daran zu denken schien, daß seine Tochter irgendeine Zurückhaltung über die Geschichte ihrer Familie beobachten könnte.
Sie füllte sein Glas, stellte alle die Kleinigkeiten auf den Tisch vor ihn und setzte sich neben den Vater, während dieser aß. Offenbar nach ihrer allnächtlichen Gewohnheit legte sie ein Stück Brot vor sich und berührte sein Glas mit ihren Lippen. Der Blick, mit dem sie halb bewundernd und stolz, halb verlegen, aber doch lauter Liebe und Hingebung, ihren Vater ansah, drang ihm tief ins Herz.
Der Vater des Marschallgefängnisses war gegen seinen Bruder, als einen liebreichen und wohlmeinenden Mann, einen stillen Charakter, der es zu keiner Auszeichnung gebracht, sehr herablassend. »Frederik«, sagte er, »du und Amy essen heute zu Hause zu Nacht, nicht wahr? Wo ist Fanny, Frederik?«
»Sie geht mit Tip spazieren.«
»Tip – müssen Sie wissen – ist mein Sohn, Mr. Clennam. Er war etwas wild und schwer in Ordnung zu halten, aber sein Eintritt in die Welt war auch ziemlich« – er zuckte die Schulter mit einem leichten Seufzer und blickte im Zimmer umher – »ziemlich seltsam. Ihr erster Besuch hier, Sir?«
»Mein erster.«
»Sie könnten auch seit Ihrer Knabenzeit kaum hier gewesen sein, ohne daß ich es erfahren. Es geschieht höchst selten, daß jemand – von Bedeutung, von irgendwelcher Bedeutung – hierherkommt, ohne daß er mir vorgestellt würde."
»Vierzig bis fünfzig wurden oft an einem Tage meinem Bruder vorgestellt«, sagte Frederik, plötzlich stolz aufleuchtend.
»Jas, sagte der Vater des Marschallgefängnisses bestätigend. »Es waren ihrer sogar noch mehr. An einem schönen Sonntag zur Zeit der Sitzungen der Gerichtshöfe ist es ein wahrer Empfang – ja ein Empfang. Amy, liebes Kind, ich habe mir den halben Tag den Kopf zerbrochen über den Namen des Gentleman von Camberwell, den mir letzte Christwoche der angenehme Kohlenhändler, der auf sechs Monate wieder zurückgeschickt wurde, vorstellte.«
»Ich erinnere mich seines Namens nicht, Vater.«
»Frederik, erinnerst du dich seiner?«
Frederik bezweifelte, daß er ihn je gehört. Niemand konnte aber bezweifeln, daß Frederik die letzte Person auf Erden sei, an die man eine solche Frage richten könnte, mit irgendeiner Aussicht auf Auskunft.
»Ich meine«, sagte der Bruder, »den Gentleman, der jene Handlung mit so viel Zartheit ausführte. Ha! Still! Der Name ist mir ganz und gar entfallen. Mr. Clennam, da ich gerade eine schöne und zarte Handlung erwähnte, so werden Sie vielleicht auch wissen wollen, was es war.« »Allerdings«, sagte Arthur und wandte seine Augen von dem zarten Kopf, der sich zu senken begann, und dem blassen Gesicht ab, über das eine neue Besorgnis hinzog.
»Diese Tat ist so edel und zeugt von so viel Zartgefühl, daß es wohl Pflicht ist, ihrer zu gedenken. Ich sagte damals, daß ich bei jeder passenden Gelegenheit ohne Rücksicht auf persönliche Gefühle davon sprechen werde. Ja – es nützt nichts, die Tatsache zu verheimlichen – Sie müssen wissen, Mr. Clennam, daß es bisweilen vorkommt, daß Leute, die hierher kommen, dem Vater des Ortes ein kleines – Attestat ihrer Achtung – geben wollen.«
Es war ein sehr, sehr trauriger Anblick, ihre Hand auf seinem Arm stumm bittend ruhen und die schüchterne kleine Gestalt halb abgewandt zu sehen.
»Bisweilen«, fuhr er in leisem, sanftem, aber ernstem Ton fort, indem er sich dann und wann räusperte, – »bisweilen, – hm – unter der einen, bisweilen unter der andern Form; im allgemeinen ist es – hm – Geld. Und es ist – ich muß es gestehen – nur zu häufig – hm – recht annehmbar. Der erwähnte Gentleman wurde mir in einer für meine Gefühle höchst wohltuenden Weise vorgestellt und sprach nicht nur mit großer Höflichkeit, sondern entwickelte auch – hm – große Kenntnisse." Während der ganzen Zeit bewegte er, obgleich sein Nachtessen bereits beendet war, Messer und Gabel immer unruhig auf dem Teller hin und her, als ob er noch etwas vor sich hätte. »Es ging aus seinem Gespräch hervor, daß er einen Garten hatte, obgleich er anfangs aus Zartgefühl nur obenhin desselben erwähnte, da ich – hm – keinen Garten besuchen darf. Aber es kam dadurch heraus, daß ich einen sehr schönen Geraniumbüschel bewunderte – einen wirklich sehr schönen Geraniumbüschel –, den er aus seinem Gewächshaus gebracht. Als ich etwas über die reiche Farbe sagte, zeigte er mir ein Stück Papier rings um den Büschel, auf dem geschrieben stand: ›Für den Vater des Marschallgefängnisses‹, und überreichte ihn mir. Aber das war – hm – noch nicht alles. Er fügte eine seltsame Bitte hinzu, als er Abschied nahm, indem er sagte, ich möchte das Papier in einer halben Stunde wegnehmen. Ich – ha – tat so; und fand, daß es – hm – zwei Guineen enthielt. Ich versichere Sie, Mr. Clennam, ich erhielt – hm – Dankesbezeugungen aller Art und von mancherlei Wert, und sie waren unglücklicherweise alle sehr annehmbar. Aber keines hat mich mehr gefreut, als diese – hm – diese eigentümliche Dankesbezeugung.«
Arthur war gerade im Begriff, das wenige, was er über dieses Thema sagen konnte, auszusprechen, als eine Glocke zu läuten begann und Tritte sich der Tür näherten. Ein hübsches Mädchen von viel schönerem Wuchs und weit mehr entwickelt als Klein-Dorrit, obgleich sie viel jünger im Gesicht aussah, wenn man beide zugleich ins Auge faßte, blieb auf der Schwelle stehen, als sie einen Fremden erblickte; und ein junger Mann, der mit ihr war, blieb gleichfalls stehen.
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