Was sind Sternbilder?, hatte Lupo da gefragt.
Die Bilder, die die Sterne nachts am Himmel zeichnen, hatte der Bruder geantwortet.
Und während seine Augen sich schlossen und er sich dem Gedanken überließ, nicht zu wissen, ob und wie er sich von dort je wieder erheben würde, sah er sie kommen. Drei schwarz gekleidete Männer mit schwarzen Schleifen um den Hals, die in der Mittagshitze auf ihn zukamen. Die drei Männer hoben ihn auf und legten ihn in den Schatten eines Olivenbaums.
Ob er sie nur geträumt hatte wegen der Mittagshitze, die einen Dinge sehen lässt, die nicht da sind, aber den Schlüssel zum Übergang ins Reich der Toten und der Ungeborenen besitzt, das sollte Nicola nie erfahren.
Als er viele Jahre später seinen Fuß jenseits des Ozeans an Land setzte, sollte er wieder an diesen Moment denken, an die Hundstagshitze und an damals, als er das Meer noch nicht kannte und meinte, alles sei unmöglich.
Mir ist heiß, sagt Lupo.
Ich hab gesagt, mir ist heiß, Ninì, wiederholt Lupo.
Ich bleibe hier, antwortet Nicola.
Geh in dein Bett, sagt Lupo.
Es ist weit weg, antwortet Nicola.
Es ist dort drüben, zwei Schritt entfernt, sagt Lupo.
Es ist weit weg, wiederholt Nicola.
Und wie soll ich so schlafen?, fragt Lupo.
Mach die Augen zu, antwortet Nicola.
Du klebst an mir dran, sagt Lupo.
Mach die Augen zu, wiederholt Nicola.
Da schließt Lupo die Augen.
Es war das Jahr 1897: Lupo wurde an der Schwelle zum neuen Jahrhundert geboren, in jenem Jahr, in dem Errico Malatesta in Ancona von der Polizei gejagt wurde, während er für L’Agitazione schrieb, jenem Jahr, in dem die Bauern in Latium das Land besetzten und die Reisarbeiterinnen rebellierten, um einen höheren Lohn zu bekommen, und in Rom sogar die Kaufleute gegen die Regierung auf die Straße gingen, aber das konnte Lupo nicht wissen und sollte es lange Zeit auch nicht wissen. Ihm, der wie alle anderen zum Arbeiten geboren war, war es nicht gegeben, zu erkennen, wie die große Geschichte sich bewegte, wie die Völker und Menschen herumgewirbelt wurden, wie die Ideale in sich zusammenfielen und wohin die Hoffnungen sich verzupften, er sollte seine Augen auf sein eigenes Unheil gerichtet halten und die Macht der Entscheidungen anderen überlassen.
Als er auf die Welt kam, war Lupo ein weiteres weinendes, nacktes und schmutziges Kind, und als Stalin in Ancona in einem Hotel arbeitete, war Lupo zehn Jahre alt und sah mit seinen schwarzen Augen den Vater an, dem er alle erdenklichen Schmerzen wünschte.
Lupo wäre gern in die Schule gegangen, auch wenn er die Priester und ihre Regeln hasste, auch die wohlmeinenden und sanften, und er antwortete mit üblen Streichen.
Das hatte er gleich von Anfang an gelernt, ein Gesetz, das er immer im Herzen tragen würde: Auf das, was du nicht als richtig empfindest, auf das, was die anderen dir antun, sollst du nicht mit Worten reagieren, daher hatte es Lupo allen immer mit Taten heimgezahlt, Luigi eingeschlossen.
Deshalb warf Lupo mit zehn alles, was er im Haus fand, auf den Boden, während Luigi ihm nachlief und versuchte ihn einzufangen, aber das Kind glitt ihm aus den Fingern wie Seide, und Cane knurrte.
Luigi bewegte sich in einer Hölle aus zerbrochenen Tellern, abgerissenen Gardinen, umgeworfenen Betten – unter den brunnentiefen Augen des Jungen, der den Teufel im Leib zu haben schien, der biss, spuckte und die Zähne fletschte, scheinbar alles verschlingen konnte, vom Obst bis zu Rinderhälften.
Fass bloß Nicola nicht an, schrie Lupo. Die Bücher bezahle ich, die gehören dir nicht.
Denn das war die Abmachung zwischen ihnen: Nicola würde die Schule bis zur fünften Klasse besuchen können, wenn Lupo es bezahlte, und so hatte er das Nötige beiseitegelegt, Soldo für Soldo, hatte sich jeden Gedanken an die kleinste Vergnügung versagt, um das Geld dem Bruder zu geben.
Als Nicola ihm zum ersten Mal ein auf ein Blatt geschriebenes A zeigte, hatte er begriffen, dass jede Sache, die sie lernten, für Luigi ein Schlag ins Gesicht war, dass jedes Wort, das Lupo dazulernte, ein Hieb gegen seine Knie war, dass jeder geschriebene Satz ihm neue Sätze und immer weitere Sätze erschloss und dass ihr Dorf und ihre Felder, ihr Dialekt demgegenüber zu einem Taubenschiss wurden.
Nicola musste für alle beide lernen und jede Nacht zu ihm kommen und ihm sagen, was er gelernt hatte, es mit ihm üben, ihn wiederholen lassen und ihm erklären, zwar würden die Hände und die Tatsachen für Lupo immer mehr zählen, aber um richtig handeln zu können, musste man die Dinge richtig verstehen.
Seit Lupo auf der Welt war, hatte Luigi ihn nicht bremsen können, er überrumpelte und beherrschte ihn wie der schlimmste Schrecken; seit er laufen konnte, war ihm nicht beizukommen, er verbrachte ganze Tage im Wald, er gehörte einem Menschenschlag an, dem der Bäcker nichts entgegenzusetzen hatte. Ohnmächtig wie gegenüber einer Naturkatastrophe sah Luigi zu, wie er das Haus verwüstete.
Während Lupo eine Wanne umwarf und schrie, dass ihre Kinder eins nach dem anderen sterben und nur er und Nicola ihnen bleiben würden, dazu bestimmt, wie eine einzige Person zu überleben, betete Violante, dass das nächste Erdbeben sie alle miteinander verschlingen möge, mitsamt ihrem Haus und dem Ort, um dieses Leben, das sie nicht zu führen verstanden, auszulöschen.
Von den Prophezeiungen des Jungen an der Gurgel gepackt, warf Luigi sich unters Bett und holte das Gewehr hervor.
Unterdessen lag Adelaide da und hustete, ihre schmale Mädchenbrust hob sich in unregelmäßigem Rhythmus, jeder Atemzug war das Geräusch der Krankheit. Wenn sie Luft bekam, rief sie nach Antonio, aber Antonio war nicht mehr da.
Der Bäcker sagte: Jetzt erschieß ich dich, und richtete das Gewehr auf den Jungen.
Der antwortete ihm: Dazu hast du nicht den Mut.
Luigi, der wie alle jemanden gewollt hätte, dem er seinen Beruf beibringen, sein Geschäft übergeben konnte, das er nicht mehr ertrug, jemanden, dem er seine Zukunft anvertrauen konnte, während diese wie Moos in der Sonne verschrumpelte, dachte an die grünen Augen Antonios und ließ wütend das Gewehr sinken.
Der Junge hatte recht, er hatte nicht den Mut.
Geschlagen blickte er auf seine Hände und schüttelte den Kopf, während Cane ihn aus seinen gelben Hyänenaugen ansah, bereit, ihn in die Kehle zu beißen, dort, wo die Halsschlagader das Blut in den Kopf leitet.
Ich gehe mit der Brigade von Gaspare nach Senigallia, sagte Lupo und betrachtete ihn dabei vom hinteren Ende dieses Horts ihrer Streitereien und Bosheiten aus. Und verließ das Haus.
Auf dem Land war es üblich, dass sich einige Kinder, gewöhnlich nur wenige, Brigaden anschlossen, das waren Gruppen, bestehend nur aus Männern, die mit Wein, Käse und ein paar Instrumenten in die Küstenstädte zogen und dort den Sonntag verbrachten.
Gaspare Garelli war erwachsen, er war siebzehn, aber Lupo hielt sich immer an die, die größer waren als er, und die verschmähten seine Gesellschaft nicht: In der Tat war er aufgeweckt, ein guter Arbeiter, zu jedem Spaß aufgelegt, aber auch schlagfertig, wenn er angegangen wurde, und er stand ihnen in nichts nach, wenn es galt, irgendwelchen Unsinn zu machen.
Bevor er ging, verabschiedete sich Lupo von Nicola, der mit seinem vom Gebrauch völlig zerfledderten Heft auf den Treppenstufen saß.
Er wird dich nicht mehr schlagen, keine Angst, sagte er und strich ihm über den Kopf. Ich treffe Gaspare und komme heute Abend zurück, setzte er hinzu.
Kann ich in deinem Bett schlafen?, fragte Nicola und hob das schmale Gesicht vom Heft.
Schlaf, wo du willst.
Lupo sah ihn an, dann setzte er den Hut auf und lief in Richtung der Straße zum Friedhof. Cane kam die Treppe herunter und folgte ihm.
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