»Okay, zunächst einmal«, begann Anja, »ist Viktor nicht tot. So wie jedes Lebewesen im Universum ist seine Seele durch die dunkle Materie an einen anderen Ort gebracht worden. Oder er ist wieder zu Hause auf Bacrillon. Über den Verbleib seines eigenen Körpers hat er mir nie etwas erzählt. Aber merke«, und dabei hob Anja ihren Zeigefinger, »nichts geht verloren im Universum. Es ändert sich nur der Zustand.«
»Okay, nehmen wir an, du hast recht. Dennoch ist er – oder sein Körper – erschossen worden. Er weilt also nicht mehr unter uns. Wer glaubst du, hätte einen Nutzen davon?«
»Er wurde vielleicht aus dem Weg geräumt, weil jemand Angst hatte, du würdest von ihm besetzt werden. Und mit Viktors Wissen und seinen Fähigkeiten wärst du nicht mehr von Nutzen für die Priori gewesen. Ich weiß es nicht.«
»Du meinst, die Priori könnten Viktor ermordet haben – wegen mir?« Steves Unterlippe begann zu zittern.
Anja stapelte die Papiere auf dem Tisch und legte sie in eine Mappe. Sie schien zu bemerken, dass Steve der Gedanke, dass Viktor wegen ihm gestorben war, sehr mitnahm. »Ich weiß es nicht, Steve. Aber mach dir keine Vorwürfe. Viktor hat mir erzählt, dass er von seinem Ende wusste.«
Steve setzte sich zu Anja auf das Sofa.
»Dieses Volk, also die Eskuatheaner, sie sind nicht böse. Die Priori wurden einst aus der Not heraus geboren. Denn das Volk suchte nach Möglichkeiten, zu überleben. Die Masse von Bellatrix ist bereits das zehnfache der Sonne in diesem System, und sie ist viertausendmal heller. Ein Leben auf Eskuathea ist nur noch auf den Polkappen möglich, und da auch nur in Gebäuden oder im Schutzanzug. Die beiden anderen Planeten in ihrem System bieten zwar Platz für den Lebensmittelanbau, aber das reicht nicht für die gesamte Bevölkerung. Das Allerschlimmste ist, dass sich die Sonne der Eskuatheaner immer weiter aufbläht. Sie stirbt. In ein paar Tausend Jahren wird es zu heiß sein. Aber schon viel früher wird die Gravitation des blauen Riesen den Heimatplaneten der Eskuatheaner verschlingen.« Anja hielt kurz inne. »Der Weg, den Körper zu verlassen, ist da das Einfachste. Die Priori sind ihre Wegbereiter. Vielleicht sehen sie in deinem Gen eine mögliche Lösung für ihr Problem. Denn mit deinen Fähigkeiten könnten sie womöglich eine Invasion wagen. Niemand auf der Erde würde das überleben beziehungsweise merken. Sie würden einfach ungefragt alle Körper übernehmen. Die Priori können nur in geschwächte Körper oder in Lebewesen, die sich freiwillig zur Verfügung stellen. Daher wurde ich stutzig, was das Institut und Nikolas Vorgehensweise angeht. Sie haben dir nicht nur viel DNA entnommen, sondern auch Blut und Gewebeproben.«
Anja nahm Steves Arm und raffte sein Hemd hoch zum Ellenbogen. Sie deutete auf drei kleine rote Punkte, die wie Einstiche aussahen. Steve war erschrocken und riss die Augen auf.
»Diese Male hast du am ganzen Körper.«
Steve sah rasch auf seinem anderen Arm. Auch dort waren Punkte zu sehen. Auch die Waden waren voll davon. Steve zuckte zusammen und versuchte, tief Luft zu holen.
»Du warst dort. Hast du erfahren, wie viele auf dem Planeten leben?«
Steve überlegt kurz. »Ja, Dimi hat es mir gesagt. 25 Milliarden.«
Anja hielt sich eine Hand vor den Mund, um ihr Erstaunen zu verbergen. »So viele? Krass. Okay, eine Invasion macht da auch keinen Sinn. Auf der Erde gibt es nur knapp acht Milliarden Menschen.«
Steve stand vom Sofa auf und schaute sich im Raum um. Erst jetzt fielen ihm die vielen alten Bücher in den Regalen auf. Sehr alte Bücher. »Wie lange, sagtest du, ist Viktor unter uns gewesen?«, fragte er.
»Etwa 550 Jahre«, antwortete Anja.
»Und du? Wie lange bist du schon hier?« Dabei nahm er sich eins der besonders alt aussehenden Bücher und schlug es auf.
Anja deutete auf ihren Körper. »28 Jahre. So steht es in meinem Pass.«
Steve sah zu Anja und kniff seine Augen ein wenig zu zusammen.
Sie senkte ihren Blick und sah auf ihre Schuhe, während sie weitersprach. »Ich will ehrlich zu dir sein. Wir Zulekh können reisen wie die Eskuatheaner. Nur dass ein normaler Zulekh einen Körper nur verlässt, wenn er nicht mehr lebensfähig ist. Seelenwanderer wie Viktor können von Körper zu Körper springen und dabei den eigenen Körper irgendwo in Stasis halten, um später wieder zurückzukehren. Aber das gilt nicht für mich.« Dabei schluckte Anja. »Wir Zulekh haben auf Dutzenden bewohnten Planeten Meldesysteme. Wenn ein geeigneter Körper frei ist, dann können wir in ihn gehen. Dieses Privileg bekommen nur sehr wenige und vor allem junge Zulekh. Unsere Seelenwanderer sind wie die Priori. Sie sind auf fremden Planeten, um die dortigen Rassen zu inspizieren oder um nach Spendern zu suchen. Die Gabe des Seelenwanderers ist jedoch sehr selten.«
Steve war sehr wohl aufgefallen, dass Anja von Dutzenden bewohnten Planeten gesprochen hatte. Er ahnte, dass es schwer sein würde, alles zu behalten. Daher hatte er von Anja unbemerkt den Audiorecorder auf seinem Smartphone aktiviert. »Da du kein Seelenwanderer bist, hast du von solch einem Privileg profitiert, richtig?«
Anjas Blicke wanderten derweil auf Steves Schuhe. Sie schien es nicht zu wagen, ihm dabei in die Augen zu schauen. »Auf Bacrillon hatte ich natürlich auch schon ein Leben, wenn auch nur kurz. Ich war gerade fertig mit der Ausbildung, dann zertrümmerte ein Anschlag auf unsere Schule meinen Körper. Nur mein Gehirn war noch intakt. Das war vor 28 Jahren. Und zu dieser Zeit kam auf der Erde ein hirntotes Kind auf die Welt. Zumindest würden das die irdischen Ärzte so sagen. Der Körper wurde noch nicht beseelt. Ja, und seitdem bin ich hier.«
Anjas Blick fiel nun in Steves Augen. Dabei merkte er, dass ihre Augen feucht wurden.
»Und erinnerst du dich noch an dein erstes Leben?«
»Bis zu dem Tag in der Schule. Die Erlebnisse aus meinem Körper auf Bacrillon kommen zurück, seit ich etwa sechs Jahre alt bin. Meine irdischen Eltern hielten mich immer für verrückt.«
»Wie hast du von deinen Eltern auf Bacrillon erfahren?«
Anja nahm die Mappe mit den alten Urkunden und Briefen und steckte sie in ihre Tasche. »Unsere leblosen Körper werden in der Heimat zu Diamantsteinen gepresst. Zu diesem Stein hat mein Geist eine Verbindung. In unserer Heimat gibt es das Berufsbild des Mediums. Wenn meine Eltern Kontakt zu mir aufnehmen wollen, buchen sie ein Medium. Mein Geist kann dann in diesen Körper fahren, solange das Medium es zulässt. So können meine Eltern mit mir kommunizieren.«
»Dasselbe Prinzip wie bei den Eskuatheanern. Und die Reise wird durch dunkle Energie ermöglicht, richtig?«
Anja grinste. »Richtig.« Dabei wischte sie sich eine Träne von der Wange.
»Ach, und wo war euer Sternensystem doch gleich?«
»Beteigeuze wird es hier genannt. 430 Lichtjahre von hier.«
Steve musste wieder an den Roman »Per Anhalter durch die Galaxis« denken, in dem Beteigeuze nicht unwichtig war, und er fragte sich, ob der Autor, Douglas Adams, sich das alles womöglich gar nicht ausgedacht hatte.
»Wir müssen jetzt los«, sagte Anja und packte noch ein paar Sachen zusammen, »ich habe noch einen Termin.«
Dann verließen sie Viktors Wohnung.
Steve fiel beim Verlassen des Hauses eine dunkle Limousine auf, in der zwei Männer mittleren Alters saßen.
Bevor er mit Anja losfuhr, startete Steve seine Haustür-App. Damit konnte er nicht nur kontrollieren, wer vor seiner Haustür stand, sondern auch im Nachhinein prüfen, ob jemand an der Haustür gewesen war. Die Kamera zeichnete alles auf. Es war kein Eintrag vorhanden, obwohl Kommissar Lumbeck vorhin behauptet hatte, bei ihm gewesen zu sein. Dann beendete er auch noch die Audioaufnahme, die er zuvor gestartet hatte.
Sie fuhren los.
Steve sah in den Rückspiegel. Der Wagen setzte sich ebenfalls in Bewegung. Wie in einem Krimi. Steve bog links ab und stellte sich vor einen parkenden Lieferwagen, sodass der Verfolger ihn erst sehen würde, wenn er schon vorbeigefahren war.
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