Das hyperthymestische Syndrom sollte mit dafür verantwortlich sein, wenn jemand nichts mehr vergaß. Diese Menschen konnte sich alles merken. Wenn man sie fragte, was an einem bestimmten Tag vor ein paar Jahren, beispielsweise um 11 Uhr vormittags passiert war, konnte die Person – sollte sie zu diesem Zeitpunkt ein Buch gelesen haben – jede einzelne Seite wiedergeben.
Erklären konnte sich die Medizin diese Symptome allerdings auch nicht. Genaugenommen hatten die Forscher den Phänomenen nur Namen gegeben. Sie maßen erhöhte Gehirnaktivitäten in verschiedenen Sektoren, aber warum das so war – unbekannt. Er fand Artikel über bekannte Persönlichkeiten. Ennio Morricone zum Beispiel antwortete auf die Frage, woher die fantastischen Ideen für seine Musikstücke kamen: »Keine Ahnung. Das weiß ich auch nicht. Es ist einfach da.«
Auslöser solcher Symptome, dass Menschen neue Fähigkeiten oder Inspiration haben, war häufig ein Unfall, und sei es nur ein Schlag auf den Kopf. Eine vorübergehende körperliche oder geistige Schwäche. Das würde mit Davids Erklärungen übereinstimmen, schlussfolgerte Steve. Der Wirt musste geschwächt sein, sonst konnte kein Bellatrixianer eindringen.
Steve recherchierte weiter. Eine Berufskrankheit. Informationen sortieren und Wichtiges herausfiltern – genau sein Ding. Zudem war er wie viele andere Journalisten stolz darauf, unkonventionell zu denken und Zusammenhänge zu erkennen, die andere nicht so schnell sahen.
Allerdings waren viele Artikel dabei, die sich nicht so wahnsinnig von den Beiträgen der Verschwörungstheoretiker unterschieden. Das viele Googeln machte ihn müde. Es half auch nicht wirklich weiter. Wie ein Kranker, der im Internet nach seinen Symptomen sucht, würde ihm danach nicht geholfen sein. Er würde sich nur noch kränker fühlen und am Ende doch einen Arzt aufsuchen müssen.
Steve brauchte frische Luft. Ein Spaziergang in der Münchner Altstadt würde ihm gut bekommen. Er schlenderte durch die Straßen. Es war kurz vor acht, und die Geschäfte hatten noch geöffnet. Deshalb ging er in einen Biomarkt. Vielleicht würde er noch Bier kaufen.
Er musste im Kühlregal nicht lange suchen, die Auswahl an alkoholischen Getränken war nicht sehr groß. Seine Wahl fiel auf ein kühles Hefeweizen. Diese Biersorte trank Steve am liebsten.
An der Kasse drängelte hinter ihm ein junges Pärchen. Sie waren offenbar unter Zeitdruck, denn die junge Frau stießt einen genervten Seufzer aus. »Das wird knapp mit dem Zug.« »Ja«, stimmte ihr Freund zu, der nicht älter als achtzehn wirkte, »und blöderweise ist nur eine Kasse auf.«
Da die beiden auch nur einen Softdrink hatten, trat Steve beiseite und ließ sie vor. »Gehen Sie ruhig vor, ich habe Zeit.«
»Danke, sehr freundlich«, sagte der junge Mann, während seine Freundin auf Steves Bierflasche sah. So, wie sie die Augenbrauen hochzog, musste sie ihn für einen Alkoholiker halten. Die beiden bezahlten und verließen eilig das Geschäft.
Steve hatte beim Warten bereits das Kleingeld passend abgezählt, wodurch das Bezahlen schnell ging. Wenige Sekunden später war er auch wieder auf der Straße. Links sah er das Pärchen eilig in Richtung U-Bahn verschwinden. Steve ging mit seinem Bier in die andere Richtung.
Auf einmal krachte es fürchterlich, gefolgt von einem kurzen Aufschrei und einem weiteren Krachen.
Steve drehte sich zurück in die Richtung, wo er eben noch das Pärchen hatte laufen sehen. Ein Taxi war in ein parkendes Auto gefahren und genau in das Pärchen geschlittert.
Für einen Augenblick war es gespenstig still. Dann fingen einige Leute an zu schreien. Steve ließ vor Schreck seine Bierflasche fallen, sie zerschellte am Boden. Dann rannte er zum Unfallort.
Die junge Frau war nur zur Hälfte zu sehen. Das Taxi war über sie gefahren, und ihr Brustkorb war eingedrückt. Ihre Beine lagen noch unter dem Wagen. Sie blutete aus mehreren Schnittwunden im Gesicht, ein Stück der Aluminiumdose, die sie eben erst gekauft hatte, steckte noch in ihrer Wange. Die Wunden füllten sich mit Blut. Ihre Augen waren geöffnet und die Pupillen weiteten sich rasch. Der junge Mann zuckte. Blut lief aus seinem Mund. Auch er war unter dem Wagen eingeklemmt und hatte mehrere Quetschungen am Körper sowie Schürfwunden, die sich mehr und mehr mit Blut füllten.
Immer mehr Passanten strömten herbei. Einige hielten nur die Hand vor den Mund und rissen die Augen weit auf. Andere zückten ihr Smartphone und filmten den Unfallort. Einer machte die Tür des Unfalltaxis auf. Der Fahrer schien bewusstlos zu sein.
Steve erschrak, als eine Hand ihn am Unterarm packte. Er drehte sich um; es war der verunglückte Mann, der Steve mit großen Augen ansah.
»Hilfe …«, keuchte er mit letzter Kraft. Dann klammerte sich seine Hand ganz fest um Steves Arm.
»Es muss doch möglich sein, dem Mann zu helfen«, dachte Steve. Hätte er doch die beiden an der Kasse nicht vorgelassen.
Der Mann drückte Steves Hand ganz fest mit aufgerissenen Augen. Mit einem Mal durchschoss Steve ein brutaler Schmerz. Als würde ihm jemand von jetzt auf gleich seine Wirbelsäule rausreißen und einen Felsen auf seine Brust werfen. Er befand sich plötzlich im Körper des Mannes. Angst überkam ihn. Was, wenn er jetzt sterben würde? Die Fußballerin kam ihm in den Sinn. Wie gerne wäre er jetzt in ihrem Körper und nicht in diesem sterbenden Mann. Dann dachte er an seine Träume aus der Vergangenheit. Die Frage von dem Forschungsassistenten Arnold, ob man die Vergangenheit nicht ändern könnte. An den letzten Gedanken klammerte sich Steve. Er versuchte, in die Vergangenheit zu reisen. Plötzlich wurde es still. Alles ringsherum erstarrte. Die Zeit fror ein. Klappte es tatsächlich?
Er würde nur ein paar Sekunden zurückgehen, nur so viel, um das Pärchen warnen zu können oder um die Reaktion des Mannes zu beeinflussen. »Gehe rückwärts, Zeit, gehe rückwärts«, dachte er. Und die Zeit fing wieder an, zu laufen. Rückwärts. Erst langsam, dann schneller.
Der Schmerz war mit einem Schlag verschwunden. Dann flog das Auto rückwärts von ihm weg. Er blickte nach links. Da war die Freundin. Sie lächelte ihn an und öffnete den Softdrink. Zum Hauptbahnhof wollten sie. Eine Freundin abholen. So viel erfuhr er in der kurzen Zeit über den Mann. Jetzt waren die beiden wieder am Ladenausgang.
»Reicht«, dachte Steven, aber nichts passierte. Die Zeit lief weiter rückwärts, ohne dass er etwas tun konnte – er wusste ja nicht, wie.
Er sah sich, wie er den jungen Mann an der Kasse vorließ, wie wenn man einen Film zurückspulte. Wieder konzentrierte er sich auf sich. »Zurück in meinen Körper«, dachte er.
Es klappte.
Er stand wieder an der Kasse, hinter ihm das junge Pärchen. Mein Gott, jetzt bloß nicht rumdrehen. Doch Steve tat genau das. Wieder drängelte das Pärchen, er riss sich zusammen und sagte diesmal nichts. Er sah die beiden einfach nur an.
»Wahnsinn!« Der junge Mann grinste Steve an. »Kennen Sie das? Ich hatte gerade voll das Déjà-vu.«
Leicht irritiert nickte Steve.
»Echt?« Die junge Frau sah ihren Freund an.
»Ja, voll. Wie mich der Mann da angesehen hat …« Dann wandte er sich wieder an Steve: »Entschuldigen Sie. Aber das war jetzt ganz eigenartig.«
Steve war jetzt dran. Es waren ja nur Sekunden, die er ändern wollte. Ein kurzes Gespräch sollte reichen. »Ja, ich kenne dieses Gefühl.« Dabei holte Steve ein paar Münzen aus der Tasche, um das Bier zu bezahlen. »Ob Sie es glauben oder nicht. Manchmal kann so ein Moment ein ganzes Leben verändern.« Dann lächelte er die beiden an und bezahlte gemütlich seinen Einkauf.
Er ging langsam Richtung Tür in der Hoffnung, genügend Zeit für das Pärchen herausgeholt zu haben. Draußen ging Steve diesmal in die Richtung, in der gleich das Taxi den Unfall bauen würde. Schon sah er den Wagen mit hohem Tempo kommen. Das Pärchen wollte gerade an Steve vorbei, als das Taxi in ein parkendes Auto krachte und dann auf den Gehweg schleuderte. Geschockt sahen alle auf den Unfall. Das Pärchen sah Steve kurz an, als hätten sie erneut ein Déjà-vu.
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