»Wo ist meine Hose? Was habt ihr gemacht?«, fragte Steve stirnrunzelnd. Dabei wunderte er sich auch, warum Anja so hektisch war und wo die anderen waren.
Anja warf ihm seine Kleidung auf die Liege. »Ich erklär dir gleich alles. Aber nicht hier.« Dabei steckte sie das Säckchen, in dem vermutlich die DNA-Steine waren, in ihre Handtasche.
Steve zog sich schnell seine Hose und sein Hemd an. Er konnte sich aber nicht erklären, warum er jetzt so einfach verschwinden sollte. »Wo soll ich denn hinkommen?«
»Verlass das Gebäude. Ich komme zum Parkplatz.« Anja öffnete die Tür und sah nach links und rechts in den Gang, bevor sie verschwand.
Steve zog nur noch seine Schuhe an und warf einen Blick in seine Tasche, die gefüllter aussah als zuvor. Das Kästchen war wieder da. Vielleicht hatte Nikolas nur die Haare und den Zahn behalten und ihm das Kästchen wieder eingepackt?
Vorsichtig sah er die noch offene Tür, der Gang war leer. Dann musste er schmunzeln. Anja hatte ihm tatsächlich das Gefühl vermittelt, heimlich verschwinden zu müssen. Mit schnellen Schritten ging er Richtung Ausgang. Ein paar Leute kamen ihm entgegen, aber niemand interessierte sich für ihn, sodass er ungehindert zum Auto gelangte. Er wollte gerade losfahren, da riss Anja die Beifahrertür auf und sprang rein.
»Hat dich jemand gesehen?«, fragte sie nervös.
»Na ja, ich bin einigen Leuten begegnet, aber niemandem, den ich kenne. Aber jetzt erzähl doch mal. Warum sollte ich so schnell verschwinden?«
»Fahr erst mal.«
Steve fuhr vom Parkplatz. Dabei warf er Anja einen fragenden Blick zu. Schließlich begann Anja zu erzählen.
»Sie haben dir Dutzende DNA-Proben entnommen. Außerdem haben sie deinen ganzen Körper durchgemessen. Darum haben sie dich ausgezogen.«
Naserümpfend warf er einen kurzen Blick zu Anja. »Moment mal, wenn du sie sagst, meinst du Nikolas? Das Institut? Aber sag mal, gehörst du da nicht dazu?«
»Ja, schon.« Dabei rieb sie nervös ihre Hände aneinander. »Aber ich bin mit den Methoden nicht einverstanden. Ich bin mir nicht sicher, was sie mit deiner DNA machen wollen. Ich möchte auch, dass dieses Gespräch unter uns bleibt.«
Erstaunt über Anjas Vertrauen, aber dennoch skeptisch fragte Steve: »Warum erzählst du mir das? Wir kennen uns doch gar nicht.«
Anja suchte Blickkontakt, doch Steve musste sich auf den Straßenverkehr konzentrieren. Sie kniff die Lippen zusammen und wurde unsicher. »Ich glaube, du musst sehr vorsichtig sein mit deiner neuen Gabe. Ich habe immer geglaubt, dass Nikolas und das Institut auf der Seite der Guten sind. Seine Vorgehensweise heute hat mich stutzig gemacht. Ich wollte, dass du das weißt.«
Steve wollte eigentlich Richtung Sender fahren, aber Anja begann Instruktionen zu geben. »Da an der Ampel links.« Leicht irritiert sah Steve sie an. Aber er folgte Anjas Anweisungen. Alles schwirrte in seinem Kopf. Er hätte es vielleicht nicht tun sollen, aber er redete einfach drauflos. »Ich war tatsächlich auf Eskuathea«, sagte Steve begeistert, »und es war unbeschreiblich.«
Anja verlor ihre Nervosität und hatte ein Lächeln in den Augen. Dann sah sie nach vorne auf die Straße. »Die nächste Querstraße rechts.«
Steve folgte wieder Anjas Wegführung.
»Nikolas weiß nicht, was ich weiß. Ach, in ein paar Minuten wirst du mich besser verstehen. Da vorne links, dann sind wir da.«
Steve kam die Straße, in die sie abbogen, gleich bekannt vor. Eine Wohngegend mit alten Einfamilienhäusern. »Das ist Viktors Wohnung.« Steve war verblüfft und hielt genau vor Viktors Haus.
»Ich bin nicht aus dem Bellatrix-System von Eskuathea, so wie die anderen«, erklärte Anja. »Ich bin eine Zulekh. Viktors und meine Heimat war Bacrillon. 430 Lichtjahre von hier.«
»Aha. Eine Zulekh. Und … ist das dein Körper oder besetzt du diesen, so wie es die Priori tun?« Die Hand auf das Lenkrad abgestützt, drehte er sich zu ihr und musterte sie skeptisch. Dass sie kein Mensch war, wunderte ihn nicht mehr. Er fragte sich eher, ob es vielleicht auch noch ein paar echte Erdlinge auf der Erde gab. Schließlich behaupteten die Eskuatheaner ja selbst von ihm, dass er einer von ihnen war.
»Ich habe diesen Körper nicht besetzt, hier bin nur ich.«
Steve hob skeptisch die Augenbrauen. »Wissen die anderen, dass du eine – wie sagtest du? – eine Zulekh bist? Oder ist das was Normales? Sind mehrere Spezies in eurem Institut vertreten.«
»Nur Larissa. Sie ist meine beste Freundin, auch wenn sie eine Eskuatheanerin ist. Du musst wissen, dass sich Zulekh und Eskuatheaner im Allgemeinen nicht so gut vertragen. Larissa ist eine aufgeschlossene Frau. Aber die anderen dürfen nichts erfahren«, sagte sie.
Anjas Blicke waren inzwischen starr auf Viktors Haus gerichtet.
»Du hast ihn gekannt?«
Anja nickte und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
»Hast du eine Idee, wer Viktor ermordet hat?«
»Es könnten die Priori sein. Aber ich glaube nicht, dass es Nikolas war. Es gibt so viele Gruppierungen unter den Priori.«
Steve ließ seinen Kopf an die Kopfstütze seines Sitzes fallen und starrte einfach nur geradeaus. Er versuchte, die jüngst erlebten Ereignisse zusammenzufassen. Dann sah er Anja an, die ihn mit großen Augen beobachtete. Er entschloss sich, ihr zu vertrauen.
»Erzähl mir mehr. Wie gut kanntest du Viktor?«
Statt zu antworten, hielt Anja Steve einen Wohnungsschlüssel unter die Nase.
Dann klingelte Steves Handy. Es war der Kommissar. »Herr Lombard, ich habe Sie zu Hause nicht angetroffen. Ihre Kollegin sagte mir, Sie kommen heute noch in den Sender. Können wir uns dort treffen?«
»Das habe ich vor. Aber es kann noch zwei Stunden dauern.«
»Gut, ich komme dann auch dorthin.«
Die Wohnung war seit gut einer Woche verlassen, aber sie wirkte, als wäre eben noch jemand da gewesen. Gut, die Polizei war hier gewesen, aber sie hatten sich dezent bewegt. Auf dem Küchentisch standen noch eine benutzte Kaffeetasse und eine Schüssel voller Obst. Einige Bananen hatten bereits schwarze Flecken bekommen.
Anja ging weiter durch den Flur in den Wohnraum, und Steve folgte ihr. Er bemerkte das Rückenmotiv ihres T-Shirts. Auf dem stand in großen schwarzen Buchstaben »Stop Ocean Plastic«. Darunter war eine Illustration einer durchgestrichenen Plastikflasche.
»Ich habe hier oft mit Viktor gesessen«, sagte Anja. »Er hat mir immer wieder erklärt, wie wichtig es ist, dass wir diese Artefakte aus der Vergangenheit zu dir bringen. Und wie wichtig es ist, dein Leben zu schützen. Viktor wusste von deinem Gen.«
»Also habt ihr mich schon gekannt. Warum hat Nikolas oder du nichts davon erzählt?«
Anja schüttelte den Kopf. »Nur ich wusste von dir. Nikolas kannte Viktor, aber er wusste nichts von dir. Er ahnte nur, dass Viktor einen weiteren Kontakt zu einem Seelenwanderer hatte.«
Die beiden waren nun im Wohnzimmer. Anja deutete auf den Wohnzimmertisch. »Am Abend vor dem Unfall saß ich hier mit ihm.«
Auf dem Tisch lag eine alte, in Latein geschriebene Besitzurkunde der Familie Neri. Eine Wohnung in Sassi bei Matera. Die Urkunde stammte aus dem 15. Jahrhundert. Und Steve fand Briefe von einem Pater Matteo, zwei davon waren an Päpste gerichtet, an Alexander VI. und Pius III.
»Er wusste, dass es dich gibt«, fuhr Anja fort. »Und er wusste, dass du in der Zeit zurückreisen kannst. Adamo kannte deinen Namen und das Jahr, aus dem du gekommen bist.« Anja zog eine weitere Urkunde aus dem Stapel. »Die Heiratsurkunde von Jolanda und Adamo. Steve, es gab sie wirklich.«
Steve hielt sich die Hand an die Stirn. »Warte, nicht so schnell. Ich muss das alles erst verarbeiten.«
Anja setzte sich auf das Sofa und lehnte sich zurück.
»Viktor musste sterben, weil …?« Steve setzte wieder sein Fragezeichengesicht auf, indem er die Stirn runzelte und Anja genau in die Augen sah.
Читать дальше