Inzwischen ist Horst Fankhauser, gefolgt von Andi Schlick, zum Lager IV aufgestiegen und hat das Zelt aufgestellt, in das schließlich auch, mit schweren Erfrierungen, Reinhold Messner zurückfindet. Alle sind entsetzt, dass Franz Jäger nicht da ist: Horst hört ihn in der Nähe des Zeltes rufen, er und Andi machen sich auf, ihn auf dem Plateau zu suchen.
Ich war inzwischen mit Bulle ins Lager II abgestiegen, wir hatten Funkkontakt zum Lager IV. Als wir von dort nichts mehr hörten, dachten wir, Horst und Andi hätten Franz gefunden, aber nach Einbruch der Dunkelheit im Sturm biwakieren müssen.
Tatsächlich hatten Horst und Andi mehrere vergebliche Versuche gestartet, Franz in diesem Schneesturm zu suchen. Als dies misslang und sie in der Dunkelheit den Rückweg ins Lager nicht finden konnten, beschlossen sie, den Morgen in einer Schneehöhle abzuwarten. Andi wurde immer apathischer. Er redete wirres Zeug, erklärte schließlich, nach dem Wetter sehen zu wollen, und verschwand. Horst stürzte ihm nach, brüllte vergeblich nach ihm und tat schließlich das einzig Vernünftige in dieser Situation: Er kehrte ins Schneeloch zurück und wartete den Morgen ab.
Franz und Andi starben in dieser Nacht. Ihre Körper wurden nie mehr gefunden. Horst Fankhauser vermutete später, Franz Jäger sei entweder zu langsam abgestiegen und auch in den Sturm geraten, oder er sei nach einer Rast doch noch Messner gefolgt.
Nach dem Schneesturm: Expeditionsarzt Oswald Oelz versorgt Reinhold Messner.
Die Geschehnisse am Manaslu, die Fankhauser später in Jochen Hemmlebs Sammelband „Austria 8000. Österreichische Alpinisten auf den höchsten Gipfeln der Welt“ aus eigener Sicht und unter dem Titel „Über-Leben lernen“ eindrucksvoll beschrieben hat, sind heftig und kontroversiell diskutiert worden. Durfte Reinhold Messner seinen Begleiter allein umkehren lassen? Horst Fankhauser beschreibt Messners „Offenheit, Ehrlichkeit und Geradlinigkeit“, auch in der realistischen Einschätzung jeder Situation, und betont seine Erfahrung, von der „wir anderen“ nur profitieren konnten. Himalaya-Experten wie Hias Rebitsch oder Ernst Senn erklärten, dass auch sie in dieser Situation Jäger ohne Bedenken allein umkehren hätten lassen. Eine Parallele aus der Himalaya-Geschichte ist Hermann Buhls Alleingang auf den Gipfel des Nanga Parbat, nachdem sein Partner Otto Kempter am Silbersattel umgekehrt und allein abgestiegen war.
Die tragischen Tage am Manaslu waren ein wichtiges Erlebnis für uns alle und für mich im Besonderen. Ich hatte zum ersten Mal erfahren, was es bedeutete, eine Expedition zu leiten, und die Erlebnisse hatten unsere kleine Freundesgruppe noch stärker zusammengeschweißt. Trotz der tragischen Ereignisse wusste ich jetzt, dass ich hier, in den fernen Weiten und Höhen des Himalayas, mein Glück in den Bergen finden kann. Und waren es zuerst nur die Berge, die mich dorthin zogen, so wurde daraus eine immer tiefere Liebe zu diesem wunderbaren Land Nepal, seinen Menschen, seiner Kultur und Religion.
Wenn ich heute nach Nepal fliege und der Manaslu mir gegenübersteht, denke ich immer noch mit Trauer an die Freunde Andi und Franz, aber auch mit Dankbarkeit an die Erfahrungen meiner ersten Expedition im Himalaya.
Manaslu-Südwand. Die Hauptschwierigkeiten lagen im unteren Teil am Felspfeiler.
Erholung im Basislager. Wolfgang Nairz entspannt sich bei Musik und Lektüre.
Manaslu-Basislager. Heute befinden sich diese Zelte im Museum.
Abendstimmung in Lager I am Beginn des Schmetterlingstales
Mit improvisierten Strickleitern wurde der Felspfeiler gangbar gemacht.
Franz Jäger und Andi Schlick sichern sich beim Abstieg.
„DEN ANGEHÖRIGEN GEGENÜBERSTEHEN“
Am Manaslu verunglückten zwei Expeditionsmitglieder, Franz Jäger und Andi Schlick, tödlich. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände, niemandem kann Schuld zugewiesen werden. Trotzdem – wie geht man als Expeditionsleiter und Freund damit um, vor allem damit, die Angehörigen benachrichtigen zu müssen?
Das ist eine sehr schwierige Situation, und damals, 1972, war es noch schwieriger als heute. Heute hat jeder sein Satellitentelefon, andererseits sind heute die Medien live dabei. Das war damals nicht der Fall. Wir wollten die Angehörigen selber verständigen, bevor irgendetwas Unqualifiziertes in der Presse erschien. Horst Fankhauser und ich sind in einem Eilmarsch nach Pokhara gerannt, wo es das nächste Telefon gab. Ich voraus und Horst mit angefrorenen Zehen hinterher. Wenn er auf 50 Meter heran war, bin ich wieder weitergelaufen. In Pokhara hat es dann geheißen, „maybe it takes a week to get a line“ . Gespräche nach Europa musste man nämlich anmelden. Gott sei Dank hat es einen Flug nach Kathmandu gegeben, von dort konnten wir die Angehörigen verständigen, bevor alles in den Medien gestanden ist. Noch schlimmer ist dann, wenn man den Angehörigen direkt gegenübersteht und alles noch einmal erzählen muss. Das ist das Schlimmste überhaupt. So war es dann wieder am Cho Oyu, wo Reinhard Karl starb und wir hinausgeflogen sind und Reinhards Frau am Flughafen von Kathmandu gewartet hat und schon gewusst hat, was passiert ist, und man muss es jetzt noch einmal erzählen. Das ist schon sehr, sehr traurig.
Eigenverantwortlichkeit war bei euren Expeditionen immer großgeschrieben .
Professionalität war bei aller Freundschaft sehr wichtig. Am Manaslu wollten anfangs die, die überlebt hatten, oben bleiben und Franz und Andi bergen gehen, aber wir unten mussten entscheiden, dass sie herunterkommen, weil wir sahen, dass es zu lawinengefährlich wurde.
Warst du mit diesen Angehörigen später noch in Kontakt?
Ich war es, wenn auch nur lose. Andi Schlicks Sohn, der geboren wurde, als sein Vater schon tot war, und der jetzt selbst Bergführer ist, hat Kontakt mit uns aufgenommen, weil er wissen wollte, wie alles geschehen ist. Hildegard, die Frau von Andi, hat einige Jahre später den Hans Hofer geheiratet, der auch bei unserer Manaslu-Expedition dabei war. Er war alpiner Einsatzleiter der Gendarmerie im Pinzgau und ist später mit dem Hubschrauber tödlich abgestürzt. Auch die Frau von Franz Jäger habe ich später einmal getroffen.
Makalu-Südwand 1974: Neue Maßstäbe im Himalaya-Bergsteigen
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