Auch sonst werden seine Worte, die oft eine ganz neue Bedeutung haben, vielfach mißverstanden, z. B. »Bosheit« und »böse«. Bei beiden Worten hat man früher etwas wie »tückisch« und »schlecht« empfunden, während er darunter etwas Hartes, Strenges, aber auch Übermüthiges – jedenfalls aber eine Gesinnung der Höhe begreift. Deshalb schreibt er an Brandes: »Viele Worte haben sich bei mir mit andern Salzen inkrustirt und schmecken mir anders auf der Zunge als meinen Lesern.«
Über die persönliche Stellung meines Bruders zum Christenthum werde ich in der Einleitung zum X. Band, der den »Antichrist« enthält, noch einiges Aufklärende hinzufügen.
Leider waren wir durch die Raumverhältnisse genöthigt, den »Willen zur Macht« zu theilen, noch dazu etwas ungünstig, indem die kleinere Hälfte des dritten Buches in den X. Band kommen mußte. Aber die Bände IX und X gehören mit ihrem Inhalt so innig zu einander und müssen durchaus zusammen gelesen werden, sodaß es schließlich gleich ist, wo die Theilung stattfindet.
Weimar , August 1906.
Elisabeth Förster-Nietzsche.
(Der Plan , der unsrer Anordnung zu Grunde gelegt wurde, lautet in Nietzsche’s Niederschrift:)
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Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe.
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Erstes Buch.
Der europäische Nihilismus.
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Zweites Buch.
Kritik der bisherigen höchsten Werthe.
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Drittes Buch.
Princip einer neuen Werthsetzung.
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Viertes Buch.
Zucht und Züchtung.
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entworfen den 17. März 1887, Nizza.
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1.
Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder groß redet: groß, das heißt cynisch und mit Unschuld.
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2.
Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus . Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Nothwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der an’s Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.
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3.
– Der hier das Wort nimmt, hat umgekehrt Nichts bisher gethan als sich zu besinnen : als ein Philosoph und Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vortheil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand; als ein Wage- und Versucher-Geist, der sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europa’s, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat.
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4.
Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evangelium benannt sein will. »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe« – mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Ausdruck gebracht, in Absicht auf Princip und Aufgabe; eine Bewegung, welche in irgend einer Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch; welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werthe selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer großen Werthe und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Werth dieser »Werthe« war… Wir haben, irgendwann, neue Werthe nöthig…
Erstes Buch. Der europäische Nihilismus.
1. Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste? – Ausgangspunkt: es ist ein Irrthum , auf »sociale Nothstände« oder »physiologische Entartungen« oder gar auf Corruption hinzuweisen als Ursache des Nihilismus. Es ist die honnetteste, mitfühlendste Zeit. Noth, seelische, leibliche, intellektuelle Noth ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d. h. die radikale Ablehnung von Werth, Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen. Diese Nöthe erlauben immer noch ganz verschiedene Ausdeutungen. Sondern: in einer ganz bestimmten Ausdeutung , in der christlich-moralischen, steckt der Nihilismus.
2. Der Untergang des Christenthums – an seiner Moral (die unablösbar ist –), welche sich gegen den christlichen Gott wendet (der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christenthum hoch entwickelt, bekommt Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung. Rückschlag von »Gott ist die Wahrheit« in den fanatischen Glauben »Alles ist falsch«. Buddhismus der That …)
3. Skepsis an der Moral ist das Entscheidende, Der Untergang der moralischen Weltauslegung, die keine Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten: endet in Nihilismus. »Alles hat keinen Sinn« (die Undurchführbarkeit einer Weltauslegung, der ungeheure Kraft gewidmet worden ist – erweckt das Mißtrauen, ob nicht alle Weltauslegungen falsch sind – ). Buddhistischer Zug, Sehnsucht in’s Nichts. (Der indische Buddhismus hat nicht eine grundmoralische Entwicklung hinter sich, deshalb ist bei ihm im Nihilismus nur unüberwundene Moral: Dasein als Strafe, Dasein als Irrthum combinirt, der Irrthum also als Strafe – eine moralische Wertschätzung). Die philosophischen Versuche, den »moralischen Gott« zu überwinden (Hegel, Pantheismus). Überwindung der volksthümlichen Ideale: der Weise; der Heilige; der Dichter. Antagonismus von »wahr« und »schön« und »gut« –
4. Gegen die »Sinnlosigkeit« einerseits, gegen die moralischen Werthurtheile andrerseits: inwiefern alle Wissenschaft und Philosophie bisher unter moralischen Urtheilen stand? und ob man nicht die Feindschaft der Wissenschaft mit in den Kauf bekommt? Oder die Antiwissenschaftlichkeit? Kritik des Spinozismus. Die christlichen Werthurtheile überall in den socialistischen und positivistischen Systemen rückständig. Es fehlt eine Kritik der christlichen Moral .
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