Da eine Lücke in der Karte zu schließen war, musste die Cima Venezia noch einmal erstiegen werden. Es war der 24. September. In La Mare verabschiedete Payer den Führer Antonio Chiesa, der vor Zuneigung weinte. Ohne Bergstöcke, aber mit zwei Maßflaschen Wein, Pinggera beladen wie ein Saumtier, stiegen sie über tiefen Schnee zur Vedretta Marmotta und zum oberen Hochfernerjoch hinauf. Um 13 Uhr standen sie auf der Cima Venezia (3345 m). Nach langen Verzögerungen in tiefem Schnee schritten sie das Martelltal hinab und gerieten in die Nacht und in einen Orkan mit starkem Regen. Um 20 Uhr erreichten sie ihr Ziel, das Bauernbad Salt. Payer litt schon länger unter einer Bindehautentzündung, wogegen die Wirtin ein Mittel wusste. Sie legte ihm auf beide Augen einen in Leinen gewickelten toten Frosch. „Das Mittel war gewiss sehr gut. Hatte nur den Einen Fehler, dass es Nichts half.“, meinte Payer.
Am 25. September verabschiedete sich Payer von Pinggera. Sie kamen überein, im nächsten Jahr im Martell- und Laafertal gemeinsam zu arbeiten. Payer fuhr mit einem Fuhrwerk nach Bozen und von dort aus mit der Bahn über Innsbruck, Wien und Troppau nach Jägerndorf. Er versäumte es nicht, den lebensgefährlichen Sturz journalistisch auszuwerten. Die Volks- und Schützenzeitung vom 30. September druckte Payers eigenen Bericht von dem Absturz ab. Guten Kontakt zur Presse zu halten, darin war Payer zeitlebens ein Meister. Die Aufnahme der südlichen Ortler-Alpen erschien als Ergänzungsheft 27 der „Geographischen Mittheilungen“, Gotha 1869, im Umfang von 30 Seiten mit einer Karte 1:56.000, einer Ansicht im Farbdruck und drei Profilen.
GEBIETE MARTELL, LAAS UND SAENT, 1868
Im Januar 1868 war es soweit. Feldmarschall-Leutnant Baron Kuhn wurde zum k. u. k. Kriegsminister ernannt. Und tatsächlich erinnerte er sich an sein altes Versprechen gegenüber Julius Payer. Der Oberleutnant wurde jetzt dem Militärgeographischen Institut beim Infanterieregiment Nr. 36 zugeteilt. Unter Belassung dieser Verwendung wurde er am 1. Februar 1872 zum Tiroler Jägerregiment Kaiser Franz Joseph versetzt. Kuhn beauftragte Payer im Sommer 1868 mit der Fertigstellung der schon weit fortgeschrittenen kartographischen Arbeiten im Ortler- und Adamellogebiet. Diesmal dienten die Arbeiten Payers nicht seinem persönlichen Vergnügen, sondern einem offiziellen und dienstlichen Zweck, nämlich als Vorarbeiten für die österreichische Generalstabskarte.
Der Kriegsminister stellte ihm 1000 Gulden, einen Theodolit und drei Mann als Gehilfen zur Verfügung. In Bozen durfte Payer am 27. Juni aus dem Kaiserjägerregiment die erfahrenen Bergsteiger Haller, Coronna und Späth als Begleiter auswählen. Letzterer wurde bald wieder als unzuverlässig zurückgeschickt und durch Griesmayer ersetzt. Am 28. Juni kaufte Payer Wein in Meran ein und ging am folgenden Tag über Latsch nach Salt. Als nunmehr in staatlichem Auftrag tätiger Vermesser bekam er eine Wohnung im Haus des Messners Schropp neben der Kirche von Thal im Martelltal zugewiesen. Die Armee seiner Gehilfen vergrößerte sich am 1. Juli noch um den Träger Kobald sowie um den treuen Johann Pinggera. Mit großem Gepäck stieg Payers Mannschaft am 2. Juli zur unteren Marteller Alpe auf.
Kartografische Aufnahme des Martell-Gebietes im Maßstab 1: 50.000 (PGM Ergänzungsheft 29, 1872)
Die Arbeiten begannen am 3. Juli mit Vermessungen auf dem Ebenen Jöchl (2786 m). Den nächsten Tag verbrachten sie bei Regen in der Hütte. Pinggera bekam sechs Tage Urlaub. Es folgte der Aufstieg zur Peder-Ochsenhütte. Am 6. Juli erfolgte ohne den Jäger Späth um 3 Uhr in der Früh der Marsch das Pedertal hinauf über die Schildhütte auf die Äußere Pederspitze (3402 m). Es hatte Schneetreiben eingesetzt, als die Mannschaft zur Peder-Ochsenalpe abstieg, wo sie um 17 Uhr ankam. Ganz alleine beging Payer am nächsten Tag den Grat „Auf den Vertainen“. Es folgte die Besteigung der Inneren Pederspitze (3282 m) mit Abstieg über den Pederknott zur Peder-Ochsenalpe. Am 9. Juli bestieg Payer mit Haller das Pederköpfl, während die anderen die Ausrüstung in die Zufallhütte brachten. Hier ereignete sich am folgenden Tag ein, wie sich später zeigen sollte, folgenschweres Missgeschick. Durch den Genuss von verdorbener Milch und ranzigem Speck holte sich Payer einen Magenkatarrh, unter dem er nicht weniger als 10 Wochen zu leiden hatte. Zur Fortsetzung der Tätigkeit überschritt Payer das Langenfernerjoch und marschierte über die Vedretta di Cedeh zur Alpe Forno. Am 11. Juli ging Payer über das Forno-Joch nach Santa Caterina und Bormio, sodann hinauf über das Stilfser Joch nach Trafoi. Im Wirtshaus der Barbara Ortler schlief Payer erstmals seit 10 Tagen wieder in einem Bett.
Am 12. Juli traf Payer Pinggera daheim im Oberthurnhof im Suldental. Er nächtigte abends im Widum bei seinem alten Bekannten, dem Curaten Eller, und dessen Schwestern. Wieder wurde das Wetter schlecht. Am 13. und 14. Juli blieb er mit Pinggera in St. Gertraud. Seine Leute schickte er über das Madritschjoch ins Zufalltal. Am 15. Juli stand Payer mit Pinggera und dem zufällig anwesenden Touristen Wallner im strömenden Regen und Schneetreiben am Eisseepass, von dem er zur Zufall-Alpe hinabstieg. Hier beschloss Payer, seine Arbeiten für einige Tage zu unterbrechen. Sein Magenleiden plagte ihn sehr, überdies war das Wetter alles andere als gut. Er schickte am 16. Juli die Jäger zurück zu ihrem Regiment. Wallner und Pinggera gingen zurück nach Sulden. Payer selbst versuchte, in Bozen das Magenleiden auszukurieren. Sechs Tage lang, vom 17. bis 22. Juli, notierte Payer Regen. Als Ersatzmann für einen ungeeigneten Jäger brachte er den gebirgserfahrenen Griesmayer mit ins Zufalltal.
Am 24. und 25. Juli vermaß er die Umgebung der Mutspitze (2294 m). Von der Zufallhütte aus bestieg Payer mit dem tüchtigen Jäger Griesmayer am 26. Juli nochmals den Mittleren Zufall-Gipfel (3762 m). Bei der Rückkehr traf er den zurückgekehrten Pinggera in der Hütte wieder an. Mit Pinggera, Haller, Griesmayer, Coronna und seinem Diener Kobald bestieg er am 27. Juli die Vordere Rotspitze (3029 m), wo er auf dem Gipfelplateau neun Stunden lang arbeitete. Nach einem Regentag, an dem Kobald für fünf Tage Urlaub bekam, bestiegen sie am 29. Juli die Gramsenspitze (3152 m). Wieder regnete es. Payer hatte starke Schmerzen im Knie und ging mit Pinggera hinab ins Val Rabbi zur Osteria von Pizzola zur kurzzeitigen Erholung. Einen Tag und einen halben blieb er mit Fußleiden im Bett. Nachmittags wanderte er dann hinauf über die Malga Stablasol zur Malga Saent. Von dort, wo Coronna und Griesmayer zurückgeblieben waren, stiegen sie am 1. August über Val und Gletscher Sternai auf die Eggenspitze (3435 m). Noch am Nachmittag begab sich die Gruppe auf die Lorkenspitze (3351 m) und die Sällentspitze (3219 m). Unter Knieschmerzen stieg Payer hinab zur Zufallhütte am unteren Steg über die Plima nahe der Madritschmündung. Dort traf er neben Kobald auch seinen alten Freund Padilla an.
Am 2. August erfolgte ein Stützpunktwechsel mit allem Gepäck zur Unteren Alpe im Unteren Martelltal. Am 3. August arbeitete Payer 11½ Stunden auf dem Rotstallkopf (2610 m) und kartierte am folgenden Tag das Tal. Am 5. August bestieg er ohne den erkrankten Haller die Altplittschneide (3243 m). Wieder folgte ein Regentag, an dem Payers Freund Padilla sich Richtung Schweiz verabschiedete. Am 7. August ging er, noch ohne Kobald, ab 4 Uhr früh das Rothstall-Tal hinauf, stand um 11 Uhr auf der Lysispitze (3347 m). Nach Übernachtung auf der Peder-Ochsenalpe bestieg er am 8. August die Mittlere Pederspitze (3459 m), die Schildspitze (3456 m), ging über den Rosimpass zur Angelusscharte, von wo aus er den Hohen Angelus (3523 m) erklomm. Der Abstieg über die Angelusscharte durch das Lysital zur Unteren Martellerhütte wurde erneut von großen Schmerzen in Payers linker Kniescheibe beeinträchtigt.
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