All diese Argumente laufen darauf hinaus, Franz von Baader nicht nur eine singuläre Stellung in der modernen Geistesgeschichte zuzuschreiben, sondern die rein immanente Deduktion als die einzig adäquate Methode herauszustellen, eine „religiöse Soziologie“ zu begründen. Auf dieses dogmatische Verfahren ist Löwenthal selber dezidiert festgelegt, auf das „rechte Nachdenken Baaders von oben, von der theologischen Spitze nach unten“ – oder, wie das Resümee des ersten Kapitels lautet: „auf die Grundlegung der Erkenntnis und ihrer Theorie in der Theologie“. 13Daraus resultiert der Aufbau der gesamten Arbeit, die folgerichtig vom theologischen System Baaders ausgeht (Kapitel 2), einen Zwischenschritt in der „religiösen Psychologie“ macht (Kapitel 3), um dann die eigentliche „Sozietätsphilosophie“ (4. Kapitel) anzuvisieren. Wenn dies der Gedankengang der Arbeit im Großen ist, so bleibt zu fragen, warum sich Löwenthal aus der Finalisierung auf diesen letzten Teil hin – auf Geschichte und Gesellschaft – so etwas verspricht, wie ein Umschlagen der dogmatischen Deduktion in eine kritische Perspektive; denn genau dies scheint es zu sein, was sich Löwenthal von der Baader-Studie verspricht, wenngleich es nur subkutan oder zwischen den Zeilen zu spüren ist.
In der theologischen Grundlegung von Baaders Denken lässt sich Löwenthal nichts von dem entgehen, was Baader als „letzten Scholastiker und Gnostiker zugleich“ auszeichnet: Er verweist auf die Kühnheit, mit der er das „christkatholische Dogma von der Trinität“ noch einmal zur Geltung bringt, obschon „sich hierbei Konflikte mit der Philosophie des offiziellen Katholizismus nicht vermeiden ließen“ 14; er stellt sich ganz auf den Standpunkt der Baader’schen Theogonie, deren Dreiteilung („Ternar“-Lehre) als eine christliche Begründung der Logik vorgeführt wird, die der Hegel’schen gerade durch ihre Esoterik überlegen sein soll; er macht die Abgrenzung vom Pantheismus mit, der durch eine „konkretere“ Schöpfungslehre überwunden wird; und er koppelt die Anerkennung des Menschen als „Krone der Schöpfung“ an die Vorstellung, dass seiner Erlösung im Jenseits der „Sündenfall“, die „Bewährung“ im Diesseits vorausgeht. Eben hier liegt der Übergang von der theologischen Spekulation zu Geschichte und Gesellschaft: „So ist hier mit der Theorie des Abfalls und der Zeit der Anschluss erreicht an die Sphäre der Sozietät. “ 15
Auch bei der Darstellung der „religiösen Psychologie“ hält sich Löwenthal ganz eng an Baaders System, was einen gewissen Widerspruch zu der Behauptung darstellt, es gebe bei ihm kein „System“, sondern einen „organischen Kreis“ der Begriffe („Orthognosis“) 16. Ausgehend von der prinzipiellen Unterscheidung: „Geschichtliche Wahrheiten sind bedingte Wahrheiten, religiöse Wahrheiten gelten bedingungslos“ 17kommt er, eigentlich entgegen seiner eigenen Intention, zur Verdammung jeder utopischen Geschichtsauffassung, die, wie der Fall des Bolschewismus zeige, notwendig im Atheismus landet. Als Gegenzeugen, als Vorläufer einer „echt religiösen“ Auffassung des menschlichen Seelenlebens werden Paulus, Jakob Böhme, aber auch Aristoteles aufgerufen, um sodann als das Zentrum jeder religiösen Psychologie das Gebot der Liebe einzuführen, das von den „Kreaturen“ nur eingelöst werden kann, wenn ihre theologische Einbettung garantiert ist: „Gott ist die Liebe.“ 18
Und erst von hier erfolgt dann ein ziemlich abrupter Sprung in die konkreteren Gestalten des sozialen Lebens, in den Staat und die gesellschaftlichen Korporationen, in die das Individuum sich vor allem „einzuordnen“ hat, wodurch gleichzeitig auch das traditionelle Problem der „Willensfreiheit“ gelöst sein soll und die nachgeschobene Abrechnung mit der kantischen Moralphilosophie und der darauf aufgebauten Autonomieethik eigentlich überflüssig geworden ist, „weil derjenige, welcher frei sein wollte ohne Gehorsam, erst Gehorsam ohne Freiheit üben muss, damit er zur wahren, seiner Natur als Mitwirker gemäßen Intensität des Gehorsams und der Freiheit, des Dienens und des Herrschens gelange (Baader)“. 19
Mit der Darstellung von Baaders „Sozietätsphilosophie“ im engeren Sinn, auf die hin Löwenthals Abhandlung von Anbeginn geschrieben ist, tritt die Argumentation in ihr eigentliches Stadium, nicht zuletzt weil hier die Ambivalenzen hervortreten, die vorher gleichsam latent geblieben waren: Jetzt steht die moderne „bürgerliche Gesellschaft“ zur Debatte, deren Losungsworte „Freiheit“ und „Gleichheit“ auch aufgerufen werden, aber nur um sofort wieder zurückgebunden zu werden in die theologisch begründete Autoritätsordnung. Zwar sei eine „Theokratie“ im Sinne des Alten Testamentes nicht mehr zeitgemäß, aber auch die modernen Herleitungen einer rechtlich gesteuerten Gesellschaft, etwa die von Hobbes oder Rousseau, werden verworfen, weil sie letztlich in den „Nihilismus“ münden, ebenso wie Baader als der „tatsächliche Gegenspieler zu Hegel und zu Marx“ 20aufgebaut wird. Sie alle verfallen dem Verdikt der „Zeit- und Geschichtsbigotterie“, gegen die Baaders „andere“ Konzeption der „Zivilgesellschaft“ aufgeboten wird.
In dieser Zivilordnung „spricht zwar auch das Gesetz“ 21. Wenn aber dann – in gewisser Analogie zur Hegel’schen Rechtsphilosophie – die hierarchische Reihung von Familie, Korporation und Staat aufgemacht wird, so ist der Eindruck von liberalen Zugeständnissen an die moderne Entwicklung schnell wieder verflogen, zumal eindeutig konstatiert wird, dass die „Korporation par excellence“ keine andere ist als die Kirche. An dieser Stelle vermerkt Löwenthal zwar „Baaders Kampf gegen den Papalismus“, um dann aber seine politische Haltung so zusammenzufassen: „Baader ist kirchlicher und politischer Monarchist, aber eben ständischer Monarchist: nur des Hauptes und der Glieder geeinter Organismus vermag die Sozietät zu erhalten.“ 22Wieder sind durch dieses ständische Element – und zwar gerade mittels seiner theologischen Bindung – weitere Ambivalenzen einer insgesamt autoritätsgebundenen Sozietätslehre signalisiert: Es gibt bei Baader so etwas wie eine gegenläufige Enthierarchisierung des Souveränitätsproblems („das Volk ist vom Regenten abhängig und der Regent vom Volk, denn ihrer beider Beziehung wurzelt, ruht bei Gott, vor dessen Stuhl sie Rechenschaft schuldig sind“), vorstellbar ist sogar ein theologisch begründetes Widerstandsrecht, das freilich in die seltsame Form einer Gleichberechtigung zwischen Herrscher und Volk gekleidet ist. 23
In ihr argumentatives Entscheidungsstadium aber tritt Löwenthals Dissertation angesichts der „sozialen Frage“. Baader hatte 1835 bekanntlich auf sie mit einer aufsehenerregenden Schrift reagiert: Über das dermalige Missverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in betreff ihres Auskommens, sowohl in materieller Hinsicht, aus dem Standpunkte des Rechts betrachtet. Diesen umständlichen Titel kann man geradezu als Allegorie darauf verstehen, dass Baader ihre politische Brisanz einerseits erkannte, aber andererseits alles aufbot, um den Funken der Revolution im Keim zu ersticken, der von Frankreich auf Deutschland überzuspringen drohte. Die analoge Ambivalenz zeigt sich auch bei Leo Löwenthal, wenn er die Versuchung der Revolution primär dem „wildesten Despotismus, der sich unter dem Namen Liberalismus verbirgt“, zurechnet, während er den Prozess der „Säkularisation“ nur als weltgeschichtliche „Sünde“ geißeln kann. Ihn aufzuhalten, wird zur eigentlichen, zur legitimen Aufgabe der „Gegenrevolution“: „Theologie, Kirche und Proletariat werden so zu Mitteln einer Theorie und Politik, die die im Anbruch befindliche bürgerliche Gesellschaft (im modernen Sinne dieses Wortes) auf ihrem Wege aufhalten sollen. Von oben und von unten wird der Versuch zur Rückgängigmachung der Säkularisation unternommen.“ 24
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