„Political Scholar“ – darunter wird in diesem Buch ein ganz bestimmter Typus des Wissenschaftlers verstanden, der durch das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) bis ins Innerste geprägt wurde und der weit mehr war, als die heutige Berufsbezeichnung des „Politikwissenschaftlers“ meint. Diese Wissenschaftler wurden durch politische Verfolgung und Flucht, durch Exil und die Drohung des Holocaust aus ihrem angestammten Wirkungsfeld herausgerissen und mussten sich in einem anderen Umfeld neu orientieren. Es waren die Reflexion auf diese Bedingungen sowie die daraus resultierende Neujustierung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, die aus ihnen einen Epochentypus gemacht haben.
Alfons Söllner skizziert die historische Formierung des „Political Scholar“, portraitiert seine einflussreichsten Vertreter und fragt nach ihrem Platz in der weiteren Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts.
Alfons Söllnerist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte und lehrte bis 2012 an der Technischen Universität Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Wirkungsgeschichte der intellektuellen Hitler-Flüchtlinge: besonders Frankfurter Schule, Emigration der Politikwissenschaftler und Verwestlichung der politischen Kultur nach 1945.
© ebook-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2019
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
Coverabbildung: Franz & Inge Neumann, Golde & Leo Löwenthal,
Herbert & Sophie Marcuse, ca. 1937; © Foto Umschlagseite:
Peter und Harold Marcuse.
Für Überlassung des Fotos auf der Umschlagseite bedanken wir uns bei
Peter und Harold Marcuse und Peter-Erwin Jansen (Vertreter der
Rechteeigentümer).
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung
(auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem
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vorbehalten.
ISBN 978-3-86393-548-1
Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-090-5
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de
Inhalt
Vorwort
I. Ursprünge: Religion und Politik in der Weimarer Republik
„Angelus Novus“ – Ein Versuch über „Benjamins Politik“
Der junge Leo Löwenthal – Vom neo-orthodoxen Judentum zur aufgeklärten Geschichtsphilosophie
Religion und Politik beim jungen Leo Strauss – Ein Königsweg in die politische Ideengeschichte?
II. Die Formierung des „Political Scholar“ in der Emigration (Erste Generation)
Vom Reformismus zur Resignation? Franz L. Neumann als Archetypus
Zwischen Europa und Amerika – Hannah Arendts Wanderungen durch die politische Ideengeschichte
Leo Löwenthal – Literatursoziologe der Frankfurter Schule
III. Übergänge und Perspektiven
Ideengeschichte, ihre Bedeutung für die Anfänge der deutschen Politikwissenschaft
Der Essay als Form politischen Denkens – Hannah Arendt und Theodor W. Adorno nach dem Zweiten Weltkrieg
„Agenten“ der „Verwestlichung“? Zur Wirkungsgeschichte deutscher Hitler-Flüchtlinge
IV. Politische Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland (Zweite Generation)
„Mehr Universität wagen!“ – Helmut Schelsky als Hochschulpolitiker
Kurt Sontheimer: politikwissenschaftlicher Journalist
Jürgen Habermas als politischer Intellektueller
Drucknachweise
Vorwort
„Political Scholar“ – der titelgebende Begriff des hier vorgelegten Buches wurde mit Absicht nicht ins Deutsche übersetzt. Dahinter steht die Überzeugung des Verfassers, dass der „political scholar“ nicht nur etwas anderes, sondern weit mehr war, als es die heutige Berufsbezeichnung des „Politikwissenschaftlers“ meint. Was die ideengeschichtliche Tradition als den Konflikt zwischen Theorie und Praxis gekannt hat, hat im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) sowohl eine existentielle Vertiefung als auch eine bisher unbekannte Verschärfung erfahren. Beide Faktoren haben den „political scholar“ bis ins Innerste geprägt, der damit zu einer bestimmten Gestalt des Wissenschaftlers wurde, zum Epochentypus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Wissenschaftler wurde durch politische Verfolgung und Flucht, durch Exil und die Drohung des Holocaust aus seinem angestammten Wirkungsfeld herausgerissen und musste sich in einem ungewohnten Umfeld, oft im westlichen Ausland neu orientieren. Wenn er am mitgebrachten politischen Engagement festhielt, so erforderte dies ganz besondere Kraftanstrengungen: Waren sie erfolgreich, dann erwuchsen daraus große Wirkungsmöglichkeiten; scheiterten sie jedoch, dann konnte der Sturz in die Resignation besonders tief sein.
Es waren die Reflexion auf diese zeitgenössischen Bedingungen sowie die daraus resultierende Neujustierung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, die zur Signatur des „political scholar“ geworden sind. Und vielleicht kann man sein Geheimnis ebenso wie das von ihm ausgehende Faszinosum durch eine seltsame Gleichzeitigkeit, durch die Koexistenz von Engagement und Enttäuschung erfassen. Es war kein Geringerer als Theodor W. Adorno, der in einem seiner letzten Radiovorträge darlegte (und sich dabei der Heidegger’schen Sprechweise auffällig annäherte), dass „Resignation“ weniger der Gegenpol des Engagements sei als vielmehr in einer besonderen Beziehung zum Denken überhaupt stehe. Freilich darf man diese Reflexion nicht vom zeitgeschichtlichen Kontext ablösen. Sie zielte auf die Abwehr des studentenbewegten „Aktionismus“ und war kein Widerruf des politischen Intellektuellen überhaupt. Es dürfte für die Zeit um „1968“ nicht schwer sein, ganz ähnliche Formulierungen bei Hannah Arendt zu finden, die Heidegger bekanntlich die Treue hielt und trotzdem zur Inkarnation des „political scholar“ wurde.
Damit sind zwei Köpfe genannt, die man ohne Umschweife als die Ikonen der politischen Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert bezeichnen kann: Sie sind es von der evidenten Wirkungsgeschichte her, aber auch wegen der vorgängig philosophischen – durchaus verschieden konditionierten – Imprägnierung ihres Schreib- und Argumentationsstils. In der vorliegenden Sammlung spielen sie gleichwohl nur eine prominente Nebenrolle. Das thematische Hauptkapitel rückt nämlich mit Franz L. Neumann einen dritten Kopf ins Zentrum, der wirkungsgeschichtlich im Schatten der beiden anderen verblieb und der trotzdem noch besser geeignet ist, den kairos (Karl Jaspers) zu verdeutlichen, aus dem der „political scholar“ entsprungen ist. Neumann, der nicht die Chance hatte, die Nachkriegsentwicklung längerfristig mitzugestalten, ist nach der Überzeugung des Verfassers der „Archetypus“ des politischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert, und er hat diese Sonderstellung in einem exponierten, aber wenig rezipierten Vortrag aus dem Jahr 1952 eindringlich, sowohl lebens- wie theoriegeschichtlich begründet. Der Leser sollte daher mit dem Neumann-Kapitel beginnen, weil es das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis denkbar konkret entfaltet und dennoch in eine gewisse Resignation mündet.
Damit ist sicherlich ein zum Widerspruch reizendes Szenario eröffnet, weil das auch behaupten heißt, dass alle anderen Figuren, die in diesem Essayband auftreten, in dieser oder jener Form Variationen dieses Typus sind.
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