Er spürte das Glück in diesem Raum und die Unbeschwertheit der Kindertage. Er erkannte, wie sicher, behütet und wohl sich er und seine Geschwister als Kinder fühlen durften. Er sah, wie sein kindliches Ich völlig überwältigt vom Zauber des weihnachtlichen Augenblicks zu seinem Vater aufschaute. Und er erkannte, wie glücklich und stolz sein Vater auf seine Familie hinunterblickte, ein Gefühl der vollkommenen Sicherheit.
Genauso stolz und glücklich hatte er vor wenigen Stunden auf seine Familie hinuntergeblickt. Ein Blick aus einer anderen, einer erwachsenen Perspektive. Aber ein Blick, der in ihm so viele wundervolle Augenblicke der letzten Jahre und Jahrzehnte aufleben ließ. Ein Blick, der seinen Kindern nun die vollkommene Sicherheit schenkte. Ein Blick voller Zufriedenheit und Glück und Dankbarkeit. Für alles.
Plötzlich stand der Mann wieder in seinem Haus am Fenster. Der Teddy saß zu seinen Füßen und schaute zufrieden aus. Er hob ihn auf, lächelte ihn an und flüsterte ihm zu:
»Alles zu seiner Zeit. Ein Traum.«
Weihnachtstraum
Ein Traum ging auf Reisen,
ein Traum flog ins Glück
er wollte sich reißen
vom Himmel ein Stück
Er flog zu den Sternen
er küsste den Mond
zu Bergen und Meeren
mit Freude belohnt
Nicht ruh- und doch rastlos
zieht er hin und her
erlebt dies und das
und dazu noch mehr
Erfüllt und doch leer
kam er dann zurück
es fehlte ihm sehr
das wichtigste Stück
Als er nun so saß
in Heiliger Nacht
sang, lachte und las
da war es vollbracht
Er spürte in sich
vollkommen und ganz
das liebliche Licht
den liebenden Glanz
Das Herzstück des Traums
es liegt gar nicht weit
das Herzstück des Traums:
Familie und Zeit
2
Brems dich selbst! Dann bremst das Weihnachtsglück für dich!
Die Wahrheit am Heiligen Abend
Der Auslöser war eigentlich völlig lächerlich. Ich habe meiner Schwester Finni heute Nacht während des Schlafens schwarze Schuhcreme auf ihre Handinnenflächen geschmiert. Soweit also alles ganz normal.
Natürlich hat Finni sich über Nacht das ein oder andere Mal im Gesicht gekratzt und beim Aufstehen ihre Haare aus dem Gesicht gestrichen. Natürlich hat sie in der Nase gebohrt und anscheinend auch in ihren Zähnen gepuhlt. Natürlich fand Finni es beim Hinausgehen aus ihrem Zimmer komisch, dass ihre rosa Pferdebettdecke und ihr Kissen überall schwarze Flecken hatten. Und natürlich hat Finni völlig unverhältnismäßig laut geschrien, als sie sich kurze Zeit später im Badspiegel betrachtet hat. Schwarze Flecken im Gesicht, auf den Zähnen und in der Nase schienen ihr nicht zu gefallen. Mir schon, es unterstrich ihren Teint. Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten.
Wie gesagt, soweit war also alles ganz normal. Wie zu erwarten war.
Auch zu erwarten war, dass Mama wieder nichts anderes einfiel, als mir die Sache in die Schuhe zu schieben: »Hannes, gib es zu, das warst du!«
Aber natürlich war auch klar, wie ich auf diese unverschämte Unterstellung reagieren musste: »NEIN, Mama, das war ich nicht! Ganz ehrlich! So was würde ich NIE tun!«
Bis hierhin ist somit alles perfekt und wie geplant verlaufen. Doch dann ist alles anders gekommen.
Anstatt mich kräftig zu schimpfen und danach irgendwann die Sache wieder auf sich beruhen zu lassen, sagte Mama: »Hannes, heute ist Heiliger Abend. Ich habe keine Lust auf einen solchen Unsinn von dir. Ich werde jetzt gar nicht schimpfen, sondern ich will von dir ein einfaches Versprechen: Versprich mir, dass du zumindest heute einmal einen ganzen Tag lang nur die Wahrheit sagst! Versprich mir das auf Weihnachten!«
Was war denn das für ein neumoderner, antiautoritärer Ansatz. Hatte meine Mama einen Workshop bei veganessenden, ringelsockenstrickenden, rastahaareflechtenden Sozialarbeiterinnen mit lebenslanger Erfahrung an Waldorfschulen belegt, von dem ich nichts wusste?
Sie brachte mich in eine üble Lage. Ja, natürlich kam es ab und zu vielleicht ganz selten mal vor, dass ich eine klitzekleineminimale Notlüge verwende. Aber was ich definitiv nie getan habe und auch nie tun würde, ist ein Versprechen zu brechen. Und ich hatte auch nicht vor, damit am Heiligen Abend anzufangen.
Meine Mama wusste das selbstverständlich und konnte mich richtig einschätzen. Schließlich kennt sie mich schon länger als ich mich selbst kenne.
Ich befand mich in einer Zwickmühle. Wenn ich es nicht verspreche, würde mich Mama nicht gehen lassen. Wenn ich es verspreche, würde ich einen üblen Tag erleben. Es war ausweglos.
»Hannes, ich kann dich nicht hören.«
Meine Mama wurde ungeduldig. Mein Hirn ratterte auf Hochtouren. Doch es gab keinen anderen Ausweg: »Na gut, Mama, ich verspreche es dir. Aber nur für heute, weil Heiliger Abend ist.«
Meine Mama lächelte mich zufrieden an.
Meine Schwester grinste bösartig mit ihren schwarzgefleckten Zähnen und ihren schwarzverschmierten Nasenlöchern zu mir herüber und fragte: »Gib’s zu, Hannes, du warst das, oder?«
Ich blickte mit meinem finstersten Blick in ihre hinterhältigen Augen, schluckte, atmete tief ein und wieder aus. Es war ja sowas von klar, dass sie diese Situation wieder schamlos ausnutzte. Schließlich drückte ich ein »Ja« heraus.
Mama nickte zufrieden lächelnd in meine Richtung. »Sehr schön, Hannes, dein Versprechen scheint tatsächlich zu funktionieren.«
Damit war die Sache mit der Schuhcreme für Mama erledigt. Auch wenn meine Schwester natürlich versuchte, sie noch davon zu überzeugen, mich zu bestrafen. Meine Mama allerdings meinte, dass einen Tag nicht zu lügen für mich schon Strafe genug sei.
Womit sie mehr als recht hatte, fand ich.
Nach dem Frühstück fragte mich mein Papa: »Hast du Lust, mit mir den Christbaum reinzuholen und dann mit Finni und Mama zusammen zu schmücken?«
Aus der Tradition heraus wollte ich bereits unbedacht zusagen. Zum Glück fiel mir aber noch rechtzeitig mein Versprechen ein und deswegen antwortete ich wahrheitsgemäß: »Nein, Papa, ich hab keine Lust. Ich will lieber Computer zocken.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Hannes!«
»Doch, das ist die Wahrheit, Papa«, nickte ich, drehte mich um und wollte in mein Zimmer gehen, um mich ungestört meiner Spielekonsole zu widmen.
»Du kommst sofort her und hilfst mir«, befahl in diesem Augenblick mein Vater. Somit musste ich gegen meinen Willen und gegen meine innere Überzeugung doch anpacken.
Als wir gerade mit dem Dekorieren fertig waren, klingelte es an der Tür. Zu viert gingen wir hin und Mama öffnete. Draußen standen Frau und Herr Wachter, unsere netten Rentner-Nachbarn, beide mit einer durchaus beachtlichen Bauchrundung ausgestattet.
»Hallo ihr Lieben«, begann Frau Wachter, »wir wollten euch noch eine kleine Weihnachtsfreude vorbeibringen«.
Sie reichte uns eine Dose Plätzchen und einen in orange-blau Tönen gehäkelten, großmaschigen Schal.
»Oh, schaut mal, Kinder, ist dieser Schal nicht wunderschön?«, lächelte Mama uns an.
»Oh ja«, sagte Finni zurücklächelnd.
»Ich finde ihn übelst hässlich«, sagte ich stirnrunzelnd. »Aber als Putzlumpen, da kannst du ihn bestimmt gut hernehmen. Das hast du ja mit den anderen Häkelsachen von Frau Wachter auch gemacht.«
Meine Mama funkelte mich böse an. »Was redest du denn da für einen Schmarrn, Hannes. Der Schal ist herrlich und mit den Putzlumpen täuschst du dich natürlich, sowas würde ich nie tun.«
»Probiert doch mal meine leckeren Plätzchen«, meinte Frau Wachter, die sich auch nicht so richtig wohl in ihrer Haut fühlte. Wir mussten alle vier zugreifen.
»Wow, sind die fein«, sagte meine Mama, »Sie müssen mir unbedingt das Rezept geben. Oder, was meint ihr?«
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