Gordon wurde hellhörig. »Wer ist es?«
»Barone!«
»Major Barone?« Er machte große Augen.
»Ja, aber er ist mittlerweile Oberstleutnant.«
Wieder ließ sich Gordon zurück in die Vergangenheit kurz nach dem Einsatz in Falludscha reißen. Major Barone war einer seiner verbissensten Verteidiger gewesen. Er stand ihm bei, während alle anderen hochrangigen Militärs den Politikern und Medien gefällig sein wollten. Die Presse schlachtete die Story nach allen Regeln der Kunst aus und berichtete auf reißerische Art über den gefallenen Schuss. In der Öffentlichkeit galt er praktisch als verurteilt, noch ehe die Nachforschungen zu Ende gingen.
»Das sind tolle Neuigkeiten«, fand Gordon im Zuge dieser tröstlichen Erinnerung an einen treuen Freund. »Er ist ein großartiger Mann, und bei ihm befindest du dich definitiv in guten Händen.«
»Ich dachte mir schon, du würdest dich freuen, seinen Namen wieder zu hören. Bislang hatte ich noch keine Gelegenheit, ihn persönlich zu treffen, aber es heißt, er habe eine besondere Vorliebe für Scharfschützen. Ich bin schon ganz aufgeregt; jetzt muss ich nur noch aufgenommen werden.«
»Ich bin ausgesprochen froh darüber, dass er jetzt das Kommando hat und euch Jungs für den nächsten Auslandseinsatz in Erwägung zieht.«
Gordon empfand Erleichterung darüber, dass sein Bruder in so vertrauenswürdige Gesellschaft geraten sollte. Dieses Wissen machte ihn glücklich. Sein Bruder mochte noch so viel Selbstbewusstsein hervorkehren: Gordon würde sich immerzu um ihn sorgen und ihn im Auge behalten.
Was ihm außerdem Kummer bereitete, waren die gehäuft auftretenden Übergriffe von Terroristen auf Militäreinrichtungen rund um den Globus. Ferner verzeichneten seit den vergangenen paar Monaten auch die Anschläge gegen zivile Ziele in Europa einen Aufwärtstrend. Er hatte sich schon oft mit Samantha darüber unterhalten, wie seltsam es war, dass diese Organisationen solche Angriffe bisher nie in den Vereinigten Staaten gewagt hatten. In Anbetracht der arg durchlässigen Südgrenze des Landes hielt er diesen Glücksfall jedoch für zeitlich begrenzt. Über kurz oder lang, das war ihm klar, würden die Terroristen erneut hier zuschlagen, und die nächste größere Aktion könnte so verheerend sein, dass sie die Nation in die Knie zwänge.
Gordon verdrängte das Bild der grausamen Weltbühne und widmete sich wieder seinem Vorsatz, eine angenehme Zeit mit seinem Bruder zu verbringen. Noch einige Biere mehr, etwas Gelächter und ein bisschen Schwelgen in Erinnerungen, dann verabschiedeten sich die beiden voneinander.
Nachdem er Sebastian bis zur Haustür begleitet hatte, drückte Gordon ihn an sich und sagte: »Falls du je irgendetwas brauchen solltest, zögere nicht, mich anzurufen. Wir sind immer für dich da.«
»Das werde ich, Gordo. Bist der Beste, mein Bruder.« Sebastian fühlte sich stets unwohl, wenn er aufbrechen musste. Er hasste dieses Lebewohl-Gehabe.
Als er schon über den Bürgersteig ging, rief Gordon hinterher: »Bleib auf Zack, Marine!«
Angst ist Schmerz aus der Erwartung des Bösen. – Aristoteles
»Wir unterbrechen das Programm für eine Sondersendung von CNN News. Mehrere Explosionen ereigneten sich im Century Link Field im Zentrum von Seattle, der Heimat des Footballteams Seahawks. Die Zahl der Verletzten bleibt bis auf Weiteres unbekannt. Wir schalten zu unserem Reporter vor Ort, der aus einem Helikopter über dem Stadion berichtet.«
»Oh mein Gott«, schnaufte Samantha und schlug sich entsetzt eine Hand vor den Mund.
»Mama, wo steckt Hunter?«, quengelte Haley.
»Er spielt oben in seinem Zimmer«, antwortete Samantha, ohne das Kind anzusehen. »Bist du mal kurz still, bitte?«
»Mama, Mama, ich will Saft«, bettelte Haley weiter, indem sie an der Hose ihrer Mutter zupfte.
»Sekunde, Kleines«, hielt Samantha sie hin.
Das Kind ging nicht auf die Beschwichtigung ein und gellte: »Mama!«
»Haley, bitte Liebes, nur ganz kurz!« Samantha wurde laut. »Mama schaut sich etwas ganz, ganz Wichtiges an.«
Sie konnte den Blick nicht von den Szenen losreißen, die über den Bildschirm flimmerten. Rauchsäulen schraubten sich über dem Stadion empor. Leider standen solche Bilder nunmehr an der Tagesordnung.
Seit dem 6. September kam es fortwährend an unterschiedlichen Orten im Land zu Anschlägen. Ob Autobomben, Selbstmordattentäter oder Amokschützen in Einkaufszentren – Gewalt war fast zur Normalität geworden. Von Miami ausgehend bis nun nach Seattle schien es in den USA keine sichere Gegend mehr zu geben. Der Präsident hatte noch am vorangegangenen Abend versucht, die Bürger in einer landesweit ausgestrahlten Fernsehansprache zu beruhigen. Seinem Versprechen zufolge wurden alle verfügbaren Mittel angewandt, um jegliche weiteren Attacken zu vereiteln.
Unglücklicherweise jedoch erfolgten diese Attacken quer durchs Land in so unschöner Regelmäßigkeit, dass nicht wenige Mittel allmählich erschöpft waren. Die verschiedenen Geheimdienste hatten einige wenige Zellen aufhalten können, doch da diese nur sporadisch in Erscheinung traten, war es unmöglich, sie alle zu stoppen. Ganz Amerika war mit den Nerven am Ende. Viele Bürger frequentierten öffentliche Plätze mit möglichem hohen Personenaufkommen überhaupt nicht mehr. Samantha und Gordon zählten zu denjenigen, die das Ausgehen kategorisch mieden. Trauten sie sich dennoch vor die Tür, dann nur zur Beschaffung dessen, was man nicht online bestellen konnte, und niemals in Begleitung der Kinder. Die Lage war zu sehr angespannt, und die Wirtschaft litt unter den wiederholten Attentaten.
»Gordon!«, rief Samantha.
Eine Minute verging ohne Antwort. So erhob sie die Stimme noch lauter: »Gordon, komm her!«
»Was ist los?«, raunte er aus seinem Büro auf der anderen Seite des Hauses. Gordon besaß das Glück, als Webdesigner von daheim aus arbeiten zu können.
Nach seinem Austritt beim Marinekorps hatte er nichts mit sich anzufangen gewusst; wieder die Schulbank zu drücken war ihm zuwider, doch irgendeinem Job musste er nachgehen. Bevor er sich bei der Armee eingeschrieben hatte, studierte er auf einen Abschluss in Informatik hin, weshalb er sich sehr gut mit Computern auskannte. Schon auf dem College entwarf er Internetseiten, um seine Rechnungen bezahlen zu können, also lag es nahe, sich in diese Richtung auszustrecken.
Er verdingte sich gerne in der Branche, doch die Freiheit der Heimarbeit war ihm noch lieber. Dadurch konnte er mehr Zeit mit seiner Familie verbringen, und jetzt im Zuge all dieser Angriffe schätzte er sich besonders glücklich, nicht zu irgendeiner Bürowabe pendeln zu müssen und sich dadurch als potenzielle Zielscheibe zu präsentieren.
Als Gordon das Wohnzimmer betrat, hockte Samantha nach vorne gebeugt auf der Kante des Sitzpolsters ihrer Couch und stützte die Ellbogen auf den Knien ab, während sie sich mit beiden Händen den Mund zuhielt. Er kannte ihren verzweifelten Gesichtsausdruck, und ein Blick auf den Fernsehschirm gab ihm die Bestätigung: »Scheiße, ist das denn die Möglichkeit. Schon wieder ein Anschlag? Wo?«
Endlich löste sie ihre Hände vom Mund. »In Seattle.«
»Was genau ist passiert?«
»Gordon, sei still, ich verstehe nicht.« Samantha klang äußerst aufgeregt und wirkte überspannt.
Er ging zu ihr hinüber und setzte sich neben sie auf die Couch. Dann nahm er ihre Hand, woraufhin sie sich ihm zuwandte. Tränen schossen in ihre Augen; ihre Stimme brach. »Ich habe Angst, Gordon. Dieser Terror hört einfach nicht auf. Wir wussten ja, dass es uns treffen wird, aber die kennen wirklich kein Erbarmen!«
»Ich verstehe, dass du dich fürchtest, Schatz. Vertrau mir, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um uns zu schützen. Was auch immer dazu notwendig ist: Niemandem von euch wird ein Haar gekrümmt.« Gordon drückte beim Sprechen ihre Hand und sah ihr in die Augen. Gleichzeitig hob er seine andere Hand, um die Tränen abzuwischen, die nun über ihre Wangen liefen.
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