Dragica Rajčić Holzner
Roman
Von hier aus gesehen, wo nichts mehr geschieht,
und das ist auch gut so,
muß man die Vergangenheit ganz ableiden.
Ingeborg Bachmann
TEIL I I.
Rückkehr ins Glück 24. Juni 2011
Großmutters Vision 1919
Kindheit 1965
Jesus auf der Zunge Juni 1967
Schwindel am Morgen 1975
Don Lilo 1975
Verliebt in Igor 24. Juni 1975
Psoriasis-Tabletten 1975
Café Zenta 1975
Vaters Fürsorge 1975
Zwei fremde Menschen 1975
Fluch-Flucht Split 1975
Erdbeeren 1975
Abtreibung 1975
Besuch der Familie 1975
Hochzeit 17. Oktober 1975
Igors Vater 1922–1999
Fluch(t) ins Exil Split – Belgrad – Chicago 1976
Chicago 1976
Episoden Chicago 1976–1977
Tagtraum Svetko
Die Nacht und der Morgen danach 1977
Womenirrhaus Chicago 1977
Geheimtreffen mit Igor 1977
TEIL II
Sunflower Farm 1978
Traum
Rolle: Igor
Rolle: Großmutter
Ana bei Don Lilo
Rolle: Mutter
Selbdritt
Mail to jennifer@sunflower.com 2011
TEIL III
Großer Traum
Split 26. Juni 2011
Split – Zagreb – Frankfurt Chicago
I.
Rückkehr ins Glück 24. Juni 2011
Wäre Mutter anders, hätte ich nie geheiratet. Wie ein Hund, von der Leine gerissen, lief ich durchs Fenster weg, hängte ich mich an Igor. Ich wollte tanzen, lieben, schreiben, ich wollte Glück ernten, ich wollte ein schönes Haus mit großen Fenstern und Licht, ohne Angst, ohne Schläge, ohne Zittern, ohne Mutter, die mich nie, nie geküsst hat.
Igor liegt auf der Herzstation im Firule-Spital, in Split. Ich fürchte, wenn ich auf diesen Fersen ins Hospital komme, wenn ich in Igors helle braune Augen, die entsetzliche Angst vor dem Tod haben müssen, blicke, wenn ich seine Finger und den Handrücken mit den kleinen Narben von den Zigaretten auf dem Bettlaken sehe, wenn ich mich neben das Bett setze, am helllichten Tag, dann wird sich zeigen, dass wir noch immer dieselben sind, keine Sekunde abgerückt von uns von damals. Was, wenn ich seine Verzweiflung aufnehme, mich sofort als Wurm fühle oder als Herrscherin des Universums? Zu beidem konnte er mich damals machen.
Ein Mann vom Nachbarhaus, auf der Leiter, mit dem Rücken zu mir, hat ein buntes Tuch um die Haare gewickelt, er streicht die Fassade weiß. Ich schweige wie ein Stein. Was sagen nach so vielen Jahren? Sicher denkt er, ich hätte Igor allein gelassen, er habe sich deswegen zerstört.
Die Außentreppen aus Marmor sind voll schwarzer Flecken. Marmor von der Insel Brač, einmal sehr teuer, der Kaktus ist nicht an seinem Platz neben dem Eingang, mein ganzer Stolz, sicher gut anderthalb Meter groß.
Das erste Stockwerk ist eine materialisierte Igor-Illusion. Jahrelang hielten wir uns an den Bau wie an eine Festigkeit, die auf die Normalität unserer Ehe, unseres Lebens verweisen sollte, auf ein Leben für die Wahrnehmung von außen. Gut, Igor wollte auch mir und seinem Vater beweisen, dass er es in Chicago geschafft habe, dass Vaters ganze Sammelwut nichts bringe, dass man im kapitalistischen Ausland schneller sparen könne und ein Haus ohne Kredit aufbauen. Die Träume von Igors Vater sollten sich durch Igor verwirklichen. Ein Haus, ein schönes Haus, glänzend gebaut. Weiß. Hoch. Er würde allen zeigen, was man allein schaffen kann. Zeigen. Das Geld würden wir uns vom Mund absparen, wie man so sagt, aber wir aßen genug und nahmen Kredit auf. Im Sommer bauten wir am Traumhaus. Ich war in einen Film geraten, aber es gab keinen Regisseur, kein Ende der Drehtage und -nächte. Nach der Deckenfertigstellung sollte für alle Arbeiter ein Lamm zum Mittagessen gerichtet werden, ich musste für zwanzig Menschen kochen. Den Lammkopf abschneiden. Weiß unterlaufene Augen starrten mich an, der blutverschmierte Kopf, eine Verletzlichkeit ging von diesem Schädel aus, große, ins Leere starrende Augen. Ich legte den Kopf in den Wäscheeimer. Wenn ich Zeit hätte, würde ich ihn kochen, wie es Großmutter gerngehabt hat: Zunge, noch lieber Hirn von jedem Tier: Kalb, Ziege, Schaf, Lamm. Ich dachte, so einen nackten Kopf müsse Igors Vater gehabt haben, im Krieg.
Auch für Lamm gaben wir Dollar aus, und Igors Vater kaufte so sorgfältig ein, wie er das Geld bei seiner Magazineurarbeit in Kobeks verwaltete.
Ich mache schnell die Türe zu, schiebe den Koffer zur Wand. Die Tapeten sind weggerissen, die Wand gelb gestrichen. In der Wohn-Ess-Küche auf der südlichen Seite sieht es fast unverändert aus. Die Schatten des Feigenbaums fallen auf den Balkon, die Fenster ohne Vorhänge, aber mit Holzaufhängern, dunkelbraun geölt.
Die beiden Zimmer hinter den Eingangstüren, rechts und links, sind jetzt zu einem zusammengelegt, auf einer Seite ist die Küche, auf der anderen ein flaches Liegebett. Wo jetzt der Fernseher steht, war früher der Schrank für die Kleider von Igors Mutter und Schwester mit den Mottensäcken. Der Geruch ist für immer verschwunden, die weiß gestrichenen Wände eigentlich dunkelweiß, der Plafond war höher, fast um einen Meter. Der Korridor beginnt hinter einer Türe im Rücken des Wohnzimmers, unser erstes Zimmer liegt immer noch an seinem Platz, das kleine Fenster ist vergrößert, ein weißer Plastikrahmen, der Schrank ist geblieben, das Bett am selben Platz, aber auch das ist neu. Der Olivenbaum vor dem Fenster wirft dieselben Schatten. Im gegenüberliegenden Zimmer ist alles noch immer provisorisch, zwei Schränke voll mit Sachen, die auch Igor nicht wegwerfen konnte. Wo versteckt er die Pistole und wo sind Dokumente, Parteibuch, Uhr, Fotos, die Brillen seines Vaters?
Drei Lastwagen Abfall musste man nach dem Tod des Vaters wegführen, Flaschen, altes Eisen, Plastikgefäße. Hätte er es gesehen, wäre er noch einmal gestorben, weil er behauptete, man könne alles verwerten, wenn einem danach sei, sagte mir Mutter.
Von Igors älterem Halbbruder, Igel Martin, gibt es kein Restleben mehr in diesem Haus, seine Anwesenheit war mit dem Auszug vorbei, seine Abwesenheit komplett. Als er mit siebenundvierzig Jahren im Familiengrab beerdigt wurde, rief bis dato nur Igors Vater: Mein Sohn!
Neben dem Büchergestell sehe ich die Tapete, wo einmal Weinflecken waren. Man kann ohne seelische Berührung an die Vergangenheit denken, man kann auf sie schauen wie in einem Film, dessen Ablauf klar ist, seltsam ist nur, dass einem die Rolle, die einem zukommt, absurd erscheint. Ich bin aber gut davongekommen. Gedemütigte Frauen nehmen gerne die ganze Weltschuld auf sich. Gedemütigte Männer nehmen nur eine Kalaschnikow.
Ich schaue dann in den Kühlschrank, es gibt Speck, Käse, einen Salat mit traurigen Blättern und Schweineschmalz in einem Glas, die Kartoffeln sind sicher wie damals im untersten Stockwerk, die Zwiebeln auch.
Meine Nähmaschine steht unter dem Fenster. Ich ziehe die Schublade heraus, in der liegt mein Tagebuch, das ich 1991, bevor ich Hals über Kopf kriegsbedingt Glück verlassen musste, in dieser Schublade gelassen habe. Bin befreit, leicht. Ich öffne das Tagebuch, auf der ersten Seite steht mit meiner schrägen Schrift:
Wäre das Leben eine erfundene Geschichte, wo man mit richtigen Handlungen Kapitel nach Kapitel abschließt und sich gegen Ende satt vor Erkenntnis im Glück wälzt oder sich mit einem Schuss in den Kopf niederstreckt, wo stünde ich heute? Ich schlittere wie der Wolf, den sich mein Vater ausdachte.
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