Die Intendanten einiger kleiner Stadttheater wie Gera oder Halberstadt, an denen mein Vater engagiert war, entwickelten zudem den Ehrgeiz, der Reichskulturkammer in Berlin melden zu können, dass die Mitglieder des Theaters geschlossen in die NSDAP eingetreten waren. Das war auch ausdrücklich von der Partei gewünscht, denn so konnten die Theater kontrolliert und gleichgeschaltet werden und die Intendanten mussten nicht nur der Stadtverwaltung, sondern auch dem jeweiligen Gauleiter berichten.
Meine Eltern hielten nichts von der NSDAP, sie fühlten sich denen nicht zugehörig, es war für sie die Partei der kleinen Leute. Sie selber sahen sich als Intellektuelle. Mein Vater haderte mit der Partei vor allem aus ideellen Gründen, denn sein Vater war Vorsitzender der Freimaurerloge in Stettin gewesen, die verboten worden war. Er selber wiederum gehörte der Münchner Burschenschaft Rhenania an, die ebenfalls unter die verbotenen Organisationen fiel. Die Rhenania bekannte sich gemäß ihrem Wahlspruch zu Demokratie und Freiheitsrechten und lehnte extremistische Positionen ab. Mein Vater weigerte sich also, in die Partei einzutreten, und verlor ein Engagement nach dem anderen. Bei uns zu Hause breitete sich bittere Armut aus.
Schließlich wurde mein Vater in Kolberg für das Sommertheater engagiert. Unter der Bedingung, dass er in die Partei eintrat, bot man ihm zusätzlich sogar noch die Winterspielzeit an. Erneut weigerte er sich. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der daraufhin vehement auf ihn einredete und ihm die SA oder SS mit den Worten schmackhaft zu machen versuchte, dass er dann eben nicht in der Partei wäre, was er ja ablehne, sondern in einem der Verbände, und das würde doch sicher in Ordnung gehen. Er stellte meinem Vater in Aussicht, in diesem Fall nur hin und wieder sonntagmorgens Dienst machen zu müssen, in Form von Lesungen, dem Vortrag einiger Gedichte oder eben mal einen Monolog vorzuspielen, zum Beispiel »Faust«. Schließlich war der Widerstand meines Vaters ermattet, und er trat in die SA ein. Der Grund war ein rein pragmatischer: Er besaß braune Stiefel und keine schwarzen. Nicht auszudenken, wenn er schwarze gehabt hätte und deswegen zur SS gegangen wäre!
Eines Sonntags kam er triumphierend nach Hause. Er hatte Gedichte von Tucholsky und Heine vorgelesen, und niemand hatte es bemerkt.
Nach dem Röhm-Putsch 1934 verlor die SA politisch an Bedeutung, und mein Vater stand wieder unter dem Druck der Theaterleitung, in die Partei einzutreten. Es gab kein Entkommen. Um seinen Protest gegen den erzwungenen Eintritt zum Ausdruck zu bringen, bezahlte er nie die Parteibeiträge.
Nachdem er 1941 eingezogen worden war, tauchte bei uns nun ständig ein Blockwart auf, um die ausstehenden Parteibeiträge einzutreiben. »Wir sind nicht in der Partei.« Mit dieser Bemerkung schlug meine Mutter ihm jedes Mal die Tür vor der Nase zu. Doch eines Tages stellte er seinen Fuß dazwischen und drang in die Wohnung ein. Meine Mutter schrie: »Hausfriedensbruch!«, konnte aber nichts gegen ihn ausrichten. Der Blockwart, der uns sowieso schon auf dem Kieker hatte, schaute sich genüsslich bei uns um und vermisste im Wohnzimmer das Hitlerbild. Meine Mutter redete sich um Kopf und Kragen: »Sehen Sie, da hängt mein Bruder, er ist als Oberleutnant und Kompanieführer in der Ukraine gefallen. Wenn Ihr Herr Hitler tot ist, bin ich bereit, ihn ebenfalls aufzuhängen. Aber lebende Personen kommen bei mir nicht an die Wand. Wieso sind Sie eigentlich nicht Soldat? Mein Mann ist im Krieg, und Sie? Wieso sind Sie hier?« Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken und hatte furchtbare Angst, dass der Blockwart nun böse Rache an uns nehmen würde. Doch er drohte uns nur damit, dass er bei seinem nächsten Besuch ein Hitlerbild an der Wand sehen wollte.
Meine Mutter rannte daraufhin mit vor Aufregung roten Flecken am Hals zu unserer Nachbarin im Parterre. Frau Kleber war die Witwe eines SS-Offiziers, der in Frankreich von der Résistance getötet worden war. Sie hatte nicht nur ein Hitlerbild, sondern auch ein großes koloriertes Foto von Heinrich Himmler über ihrem Sofa hängen. Immer wenn meine Mutter Frau Kleber besuchte, fiel ihrerseits die Bemerkung: »Wie können Sie diesen grässlichen Kerl bloß ertragen?« Und jedes Mal antwortete Frau Kleber: »Wenn ich auf dem Sofa sitze, sehe ich ihn ja nicht.« Frau Kleber holte aus einer Schublade gleich mehrere Hitlerbilder. Mutters Wahl fiel auf ein Bild, das Hitler bis zur Hüfte in Parteiuniform zeigte, eine Hand wie Napoleon vor der Brust, auf dem Kopf eine Mütze. Es war das kleinste Bild.
Wohin damit? Im Wohnzimmer, in einer Ecke, stand ein Kohleofen, der die ganze Wohnung beheizte. Links davon gab es eine Tür und rechts ebenfalls. Wenn beide Türen offenstanden, damit alle Räume Wärme bekamen, verschwand der Ofen hinter ihnen und mit ihm das Hitlerbild, das meine Mutter direkt neben dem Ofen platziert hatte.
Krieg
Der Zweite Weltkrieg weckt in mir fürchterliche Erinnerungen. Ständiger Fliegeralarm, Tod, Zerstörung, Flucht, Hunger, Hilflosigkeit und die immer präsente Angst. Die Menschen haben den Krieg unterschiedlich erlebt. Manche waren sogar kaum von ihm betroffen. Was Krieg mit Menschen macht, mit ihrer Seele, ist nicht vermittelbar, macht sprachlos. Zumindest mich. Es trennt die Menschen, es trennt sie von nachfolgenden Generationen, die so etwas nicht erlebt haben und nicht nachvollziehen können. Meine Ausdrucksmittel sind zu gering, um das Ausmaß des Erlebten zu schildern. Sobald ich es versuche, tauche ich ein in längst vergangene Situationen, bin sofort wieder im Geschehen und werde davon überwältigt.
Jahrelang konnte ich vieles gut verdrängen, aber jetzt im Alter gelingt mir das immer weniger. Meine Erinnerungen scheinen ein Eigenleben zu führen und suchen mich immer häufiger heim. Das Ringen um Seelenfrieden, der einhergeht mit Unbeschwertheit, Gelassenheit und auch mit Leichtigkeit, habe ich verloren.
Ich war neun Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Zu dieser Zeit lebten wir in Koblenz. Mein Vater war dort in der Spielzeit 1939 am Stadttheater engagiert. Ich erinnere mich noch, dass er eines Tages empört nach Hause kam und zu meiner Mutter sagte: »Liselotte, beide Konfessionen haben die Waffen gesegnet, wir treten sofort aus der Kirche aus.« Von da an waren wir ohne eine Institution, aber Gott-gläubig.
Schon bald wurde meinem Vater angeboten, als Oberspielleiter nach Krefeld zu gehen, für ihn ein großer Schritt nach vorne, denn Krefeld war ein ganzjähriges Theater. Mein Vater sagte zu, machte gleichzeitig aber einen fatalen Fehler. Aufgrund des Theaterwechsels war er drei Monate arbeitslos, hatte sich beim Wehrbezirkskommando aber nicht nach Krefeld umgemeldet und wurde nun genau in dieser Zeit von der Wehrmacht eingezogen. Angeblich wusste er nicht, dass man das tun musste. Der Krefelder Intendant bemühte sich zwar, meinen Vater aus dem Wehrmachtsdienst herauszulösen, der Koblenzer Intendant ebenfalls, aber es war aussichtslos.
Daher wurde mein Vater bereits 1941 eingezogen. So bestürzt die Familie war, im Nachhinein erwies sich das sogar als glückliche Fügung, denn die Schauspieler, die erst 1944, nach der Schließung aller Theater, eingezogen wurden, waren das reinste Kanonenfutter. Mein Vater kam zur »Landmarine« und lernte dort Lastwagen fahren, mit denen die Schiffe versorgt wurden. Ich sah meinen Vater in den folgenden fünf Jahren nur bei seinen seltenen Heimaturlauben.
Bei einem seiner Besuche fand in Koblenz ein entsetzlicher Bombenangriff statt. Als wir aus dem Keller kamen, sahen wir das Dach der Florinskirche brennen. Die Dachziegel flogen explosionsartig durch die Luft. Vater sagte zu mir: »Schau es dir genau an, so etwas siehst du in deinem Leben nie wieder.« Das war gemessen an all dem, was noch kommen sollte, allerdings naiv.
Mein Vater nahm mich, seine dreizehnjährige Tochter, in Richtung der brennenden Altstadt mit, um dort zu helfen und zu retten. Wir liefen an der Mosel entlang bis zur Moselbrücke. Um uns herum ein Höllenlärm: die lodernden Flammen der brennenden Altstadt, die lauten Geräusche der Feuerwehr, die Löschwasser aus dem Fluss pumpte, die Verzweiflungs- und Schmerzensschreie der den Flammen ausgesetzten Menschen. Geblendet durch den gleißenden Schein der Feuersbrunst, der sich in der Mosel widerspiegelte, konnte ich nicht sehen, wo ich hintrat. Plötzlich hörte ich eine hysterische Frauenstimme schrill schreien. Der Strahl einer Taschenlampe wurde auf meine Füße gerichtet. Ich stand auf Leichen, die dort abgelegt waren. Immer noch sehe ich dieses entsetzliche Bild: ein kleiner toter Junge, voller Blut, sein aufgeschlitzter Bauch, und er hielt noch ein Essgeschirr in der Hand, mit dem er seinem Vater das Essen zur Arbeit gebracht hatte. Der Körper seines Vaters lag völlig zerfetzt neben ihm. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt, ich wusste nicht, wie ich mich bewegen sollte, wie ich dort wegkommen konnte. Überall breitete sich mehr und immer mehr Blut aus. In meinen Holzschuhen, in denen meine nackten Füße steckten, stand das Blut. Wenn ich die Zehen bewegte, spürte ich, wie es quatschte. Mein Vater fasste mich unter den Achseln und hob mich von den Leichen herunter. Ich schleuderte meine blutigen Schuhe von den Füßen in die Mosel. Das war eine Kurzschlussreaktion, denn überall lagen Bombensplitter, die mir beim Gehen nun die Fußsohlen zerschnitten.
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