Benno trat über die Schwelle, hinein in diffuses Dämmerlicht, in dem er nur die vagen Konturen des Inventars erahnen konnte. Als er seine Taschenlampe einschaltete, stellte er überraschend fest, dass die Einrichtung nahezu vollständig und intakt zu sein schien. Auf der linken Seite stand eine weißlackierte Garderobe, an der sogar noch ein alter Mantel hing. Gegenüber wurde das Bild von einem mannshohen Spiegel reflektiert, der nur einen kleinen Sprung in der linken unteren Ecke aufwies.
Verwundert ging Benno weiter. Hatte man das Haus nach Denovalis Ableben nicht leergeräumt? Wahrlich seltsam, dachte er, während er mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe die geschwungene Treppe, hinauf in den ersten Stock entlangfuhr. Die Treppenstiege bestand aus marmornen Stufen und wirkte noch jetzt, nach dem vermeintlichen Verfall des Anwesens, wie frisch poliert. Einzig die daumendicke Staubschicht störte den Anblick. Doch sicherlich: Zum Putzen kam hier schon lange niemand mehr vorbei. Aber dass sich nicht einmal ein paar Obdachlose dieses bequeme Domizil ausgesucht hatten oder gar eine Horde neugieriger Jugendliche sich Zutritt in das Haus verschafft hatten, verwunderte Benno, der ein zertrümmertes, kaltes Inneres erwartet hatte.
Obgleich die Szenerie unwirklich erschien, verspürte Benno keinerlei Furcht. Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren oder gar etwas, wovor er hätte Angst haben können. Obwohl das Dunkel und die Schatten nach ihm zu greifen schienen.
Vorsichtig durchforschte er die anderen Räume. Im Erdgeschoss durchlief er eine voll ausgestattete Küche und entdeckte eine - zu seinem Erstaunen noch gut befüllte - Speisekammer. Nur bei den ehemaligen Frischwaren hatte sich der Zustand gewandelt. Doch der Inhalt der Dosen und Gläser mit Eingemachten wäre sicherlich noch genießbar.
Das geräumige Wohnzimmer lud trotz der Staubschichten, die sich auf den unverhüllten Polstermöbeln niedergelassen hatten, zum Verweilen ein. Spinnweben erstreckten sich um die Flaschen der gut bestückten Hausbar: Bourbon, Cognac, Rum, schottischer Whiskey und viele weitere Tropfen mochten den Liebhaber in Versuchung führen. Doch die Zeiten, in denen Benno sich zum Zwecke des Genusses hier niedergelassen hätte, waren schon lange vorbei. Die letzten Stunden seines Lebens wollte er nüchtern verbringen. Sauber - auch innerlich. Sollte man wider Erwarten doch seinen Leichnam bergen, würde er garantiert einer Autopsie unterzogen werden - und Benno wollte um keinen Preis, dass man aufgrund des Alkoholgehaltes in seinem Blut Rückschlüsse auf seine Zurechnungsfähigkeit schließen würde.
Im ersten Stock befand sich neben einigen Schlafgemächern mit ordentlich hinterlassenen Betten und gefüllten Kleiderschränken das Arbeitszimmer des verstorbenen Denovali und dessen herrschaftliches Bibliothekszimmer.
Der mit dunklen Wandtafeln verschalte Raum mit seinem in der Mitte wartenden Schreibtisch wirkte auf Benno wie das Vermächtnis alter Zeiten. An diesem Ort Bittsteller zu empfangen musste für die Besucher erniedrigend gewesen sein. Der mächtige Chefsessel war mit glänzenden Nieten versehen und Benno ließ sich darauf nieder. Hinter sich eine Wand aus dickleibigen Folianten und vor sich der Schreibtisch, auf den er seine Aktentasche legte. Er lehnte sich zurück und dachte über die Beweggründe nach, die ihn hierher führten. Diese zu spezifizieren, war gar nicht so einfach. Benno wusste tief in seinem Inneren, dass sich aufgrund einer ellenlangen Aneinanderreihung verschiedenster Geschehnisse und Schicksalsschläge ein Weiterleben nicht mehr lohnte.
Da wäre zunächst die Tragödie seiner Geliebten. Einen schrecklichen Autounfall versetzte sie in ein Koma, aus dem sie nach eineinhalb Jahren nicht mehr erwachte. Von dem Baby, das sie in sich getragen hatte, erzählte man ihm erst nach ihrem Tod. Nachdem er zugestimmt hatte, die lebenserhaltenden Maschinen abzuschalten. Doch es wäre für Benno ein Leichtes gewesen, dies als einzigen Grund für seine Selbstmordgedanken anzugeben. Hinzu kam jedoch die finanzielle Lage, in die er sich mit seinem Privatvermögen gewirtschaftet hatte, Schulden im sechsstelligen Bereich. Den Rest seines Lebens würde er da nicht mehr herauskommen; obwohl er einen wirklich gut bezahlten Job innehatte. Was das Fass aber endgültig zum Überlaufen gebracht hatte, war die Erniedrigung der letzten Wochen. Jemand hatte ihn gefilmt, wie er in einer Waldlichtung masturbiert hatte und den Film auf einer einschlägigen Internetplattform onlinegestellt. Es hatte nicht allzu lange gedauert, bis das Video unter seinen Kollegen und Geschäftspartnern herumgereicht wurde. All die Verleumdungen und beschämenden Kommentare hatten ihn nunmehr hierher getrieben.
Benno blickte auf die Uhr. Sieben Stunden blieben ihm noch, bis zur Sprengung des Gebäudes. Sein Plan war es, eine Henkersmahlzeit zu sich zu nehmen, die er sich mitgebracht hatte und sich danach eine kuschelige Ecke irgendwo im Keller zu suchen. Davor jedoch würde er seine Geschichte niederschreiben. Einfach nur so, für sich. Es war ein Spontanentschluss, der ihn soeben erst ereilt hatte. Das Schreiben soll ja auch therapeutische Wirkung haben und so würde es ihn nur in seinem Vorhaben bestärken. Es war richtig, aus dem Leben zu treten. Die Hintergründe niederzuschreiben wäre zudem ein netter Zeitvertreib. Er öffnete die Schubladen des Schreibtisches und suchte nach Schreibmaterialien. Er fand tatsächlich einen Block mit kariertem Papier, legte ihn vor sich und schlug die Deckpappe auf. Der Block war beschrieben. Benno wollte schon weiterblättern, als sein Blick doch noch an der Handschrift Denovalis haften blieb:
Schon wieder kann ich es hören. Dieses nervtötende Klopfen begleitet von abstoßendem Schmatzen. Die wievielte Nacht ist dies nun der Fall? Längst habe ich aufgehört zu zählen. Die Geräusche begleiten mein Leben, seit ich es alleine führe. Jede Nacht. Stets zu mitternächtlicher Stunde. Doch seit heute weiß ich endlich, was die Geräusche verursacht. Über dieses Wissen werde ich mir nun Gewissheit verschaffen. Und ohne jeden Zweifel werde ich entweder meinem Leben ein Ende setzen, oder aber ES wird dies für mich tun.
Für die Nachwelt indes breche ich mein Gelübde und halte hier meine letzten Erkenntnisse fest. Mögen die nachfolgenden Aufzeichnungen in die rechten Hände geraten.
Die Signatur unter der Handschrift trug Denovalis Namen.
Benno blickte auf die Uhr. Noch war es nicht Mitternacht. Dennoch lauschte er aufgrund des Textes in die Dunkelheit, leuchtete mit der Taschenlampe umher, doch weder war etwas zu hören noch zu sehen.
Er blätterte die Seite des Blocks um, doch die folgenden Blätter waren leer.
Handelte es sich hier nur um das aufgesetzte Manuskript, das Denovali zu einem späteren Zeitpunkt auf der Maschine ins reine getippt, und den benannten Aufzeichnungen beigefügt hatte? Oder war dem Verfasser keine Zeit mehr geblieben, den Text zu vollenden? Wo befanden sich jene Aufzeichnungen, von denen im Text die Rede war? Da auch sonst nichts in Denovalis Anwesen fehlte und es in jedem Raum so aussah, als habe der Bewohner nur kurz seine Behausung verlassen, ging Benno davon aus, dass sich jene Aufzeichnungen irgendwo befinden mussten. Dass ausgerechnet diese von irgendjemandem beiseitegeschafft worden waren, war unwahrscheinlich.
Neugierig begann Benno damit, den Inhalt der Schreibtischschubladen zu durchforsten. Er entdeckte allerhand, jedoch nichts, was mit dem geheimnisvollen Vermächtnis Denovalis etwas zu tun haben könnte. Er stand auf und besah sich die Buchrücken mit ihren kryptischen Titelintarsien: Von Junzts »Unaussprechliche Kulte«, »Der kleinere Schlüssel Salomonis«, das »Buch Abremalin«, datiert auf das Jahr 1458, Charles Laughtons »Dämonen und ihre Widersacher«, »De Occulta Philosophia« von Agrippa von Nettesheim, das »Buch Soyga«, das »Necronomicon«, das »de pseudomonarchia daemonum« von Johann Weyer und viele andere schwarzmagische, alchemistische und okkulte Schriften, mit denen Benno in erster Linie überhaupt nichts anzufangen wusste. Aus einigen Seiten sprießten gelbe Post-it Zettel und er zog den entsprechenden Band heraus, um ihn an jenen Stellen aufzuschlagen. Doch all das zusammenhanglose Geschwafel, die magischen Traktate mit ihren unaussprechlichen Wörtern und undurchführbaren Anweisungen, stießen bei Benno auf achselzuckendes Unverständnis.
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