«Hast du kürzlich mal wieder etwas von meinem Großvater gelesen?», fragte Hyrum, nachdem Elizabeth ein paar Bücher erwähnt hatte, die sie in den letzten Wochen durchgeschmökert hatte.
Eine der vielen interessanten Seiten von Hyrum Crowley war sein Großvater, Damien Crowley, der nicht nur vor Jahren in der Nähe von Winterhaus gelebt hatte, sondern auch Autor von unheimlichen und makabren Geschichten war, die Elizabeth liebte. Sie hatte noch nicht alle seine Bücher gelesen – soviel sie wusste, hatte er insgesamt neunundneunzig Romane geschrieben –, aber das würde sie irgendwann schaffen.
«Ich bin gerade mit Jeder Regenbogen hat einen schwarzen Rand fertig geworden», sagte Elizabeth, als das Hotel Winterhaus golden schimmernd und bekrönt von zahlreichen Wimpeln mit einem großen «W» auf dem Dach aus der verschneiten Landschaft vor ihnen auftauchte.
«Das hat mir richtig gut gefallen», sagte Hyrum. «Der Leprechaun, der in Wahrheit ein Vampir ist! Wow, ich habe echt keine Ahnung, wie mein Großvater auf all diese Geschichten gekommen ist.»
«Als Nächstes will ich Dunkelheit am Ende des Tunnels lesen.»
«Viel Glück beim Einschlafen danach!»
«Ich glaube, mein Lieblingsbuch von ihm ist bislang Colin Dredmares Kammer der Verzweiflung », sagte Elizabeth.
«Der absolute Gruselfaktor!», sagte Hyrum. «Ich mag am liebsten Malcolm Ghastford und das Geheimnis des wachsenden Kerkers .»
Ein Ereignis, das Elizabeth seit über einem Jahr nicht mehr aus dem Kopf ging, war der seltsame Fund in Gracellas altem Zimmer im Winterhaus. Sie hatte sich einmal heimlich hineingeschlichen – das Betreten des Zimmers war streng verboten, obwohl es nichts Besonderes und abgesehen von ein paar Möbelstücken auch leer war. Aber in der Schublade der Kommode hatte sie ein Buch von Damien Crowley mit dem Titel Die geheime Unterweisung der Anna Lux gefunden, das sie nur einmal kurz aufgeschlagen und dann liegen gelassen hatte. Sie hatte es nie erwähnt, niemandem gegenüber. Gelegentlich war sie in Versuchung gewesen, noch einmal in Gracellas Zimmer zu gehen, um sich das Buch genauer anzuschauen, besonders weil nicht einmal Leona Springer, die Bibliothekarin des Hotels und Elizabeths gute Freundin, irgendwo eine weitere Ausgabe des Titels hatte auftreiben können, trotz ihrer vielen Kontakte zu anderen Bibliotheken. Aber Elizabeth wusste, dass sie Gracellas Zimmer nie mehr betreten durfte. Die Neugier hatte sie einmal übermannt, und sie hatte Norbridge nie gebeichtet, was sie getan hatte. Sie schwor sich, dass es bei diesem einen Mal bleiben würde.
Elizabeth überlegte, ob sie Hyrum nach dem Buch über Anna Lux fragen sollte. Aber noch während sie die letzten Bäume hinter sich ließen und in die weite Ebene vor dem Winterhaus glitten, kam er ihr zuvor und sagte: «Professor Fowles hat kürzlich erwähnt, dass du wahrscheinlich eines Tages Winterhaus leiten wirst, weil du Norbridges nächste Verwandte bist. Stimmt das?»
Die Frage schreckte Elizabeth auf, obwohl schon andere sie gestellt hatten. Aber sie war sich noch nicht schlüssig, wie sie selbst dazu stand. Sie liebte Winterhaus von ganzem Herzen und hielt sich für den glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt, weil sie hier wohnen durfte. Aber der Gedanke, von Norbridge das Zepter zu übernehmen, verantwortlich zu sein für das ganze Hotel und jeden darin – das war zu viel für sie. Sie war zwölf Jahre alt, und es reichte ihr voll und ganz, hin und wieder in der Bibliothek auszuhelfen und pünktlich ihre Hausaufgaben abzuliefern.
«Ich weiß nicht», sagte Elizabeth, «wahrscheinlich schon …» Sie fühlte sich wie früher in Drere, wenn ihre Tante Purdy sie wegen einer fehlenden Socke oder einer anderen Kleinigkeit verhörte, mit der Elizabeth rein gar nichts zu tun gehabt hatte. Hyrums Frage hinterließ ein ängstliches und unsicheres Gefühl. Das Zischen der Skier im Schnee kam ihr plötzlich lauter vor, während sie überlegte, was sie sagen sollte.
«Wir sind fast da!», sagte Hyrum, und Elizabeth war froh, dass er die unbehagliche Stille durchbrochen hatte. In der Tat näherten sie sich rasch dem großen Hotelgebäude. Durch den wirbelnden Schnee sah Elizabeth, wie auf der gepflasterten runden Auffahrt vor der Lobby ein Auto anhielt und Personen ausstiegen.
«Sind das nicht diese Puzzle-Leute?», fragte Hyrum, der die Szene ebenfalls beobachtete.
Und richtig: Elizabeth sah, wie Mr. Wellington und Mr. Rajput, zwei Gentlemen, die seit fast zwei Jahren bei jedem Aufenthalt im Winterhaus an einem riesigen Puzzle mit fünfunddreißigtausend Teilen arbeiteten, ihren Ehefrauen aus dem Auto halfen. Dann gingen alle vier auf das Hotel zu. Sie wollte ihnen zurufen und sie begrüßen, aber sie war immer noch zu weit weg, und der Schnee schluckte alle Geräusche.
«Ich dachte, sie würden erst nächste Woche eintreffen», sagte Elizabeth.
Hyrum machte eine Kopfbewegung zum Hotel. «Gehen wir Hallo sagen.»
Elizabeth stieß sich auf den Skiern vorwärts. Während sich die Entfernung zum Winterhaus stetig verringerte, überlegte sie, warum ihr das frühe Eintreffen von Mr. Wellington und Mr. Rajput so komisch vorkam. Das Bild des rot gefärbten Schnees über dem Mineneingang zuckte ihr durch den Sinn. Doch dann erreichten sie und Hyrum die Auffahrt vor dem Grandhotel, und sie verscheuchte alle trüben Gedanken.
KAPITEL 3
EINE GABE SUCHT IHRESGLEICHEN
Die Lobby des Hotels Winterhaus war so riesig und so elegant, dass Elizabeth jedes Mal beim Hereinkommen beeindruckt war, obwohl sie mittlerweile täglich mehrmals hier durchging. Die Kandelaber, die glänzend polierten Holzpaneele, der dicke weiche Teppich mit dem Rautenmuster, die Gemälde und Elchköpfe an den Wänden, die sanfte Musik des Streichquartetts aus den Lautsprechern und das Aroma von Feuerholz, gemischt mit dem zuckersüßen Duft des weltberühmten Winterhaus-Konfekts, der «Flurschen». All das verzauberte Elizabeth immer wieder aufs Neue.
«Es gibt keinen besseren Ort auf der Welt», sagte Hyrum, während er die Mütze abnahm und seine feuchten Haare schüttelte. Er und Elizabeth hatten die Skier neben der Eingangstür stehen lassen und waren in die Lobby gegangen. Hyrum blickte zu der hohen Decke empor und lächelte. «Du hast echt Glück, dass du hier wohnen darfst.»
Elizabeth wollte ihm gerade beipflichten, als Sampson, ein Page, der kaum älter war als Hyrum, sie lautstark begrüßte. «Die weltberühmte Langläuferin Elizabeth Somers ist zurückgekehrt!», rief er von seinem Pagentisch aus und zeigte mit einem breiten Grinsen seine Hasenzähne.
«Hallo Sampson», sagte Elizabeth. Sampson war in ihren Augen nicht nur einer der besten, sondern auch der freundlichste Page im Winterhaus.
«Und Ihnen ein herzliches Willkommen, Mr. Hyrum Crowley», sagte Sampson. «Schön, Sie zu sehen. Ich bin froh, dass Sie und Elizabeth es noch vor dem Sturm ins Hotel geschafft haben.»
«Hey, Sampson», sagte Hyrum und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. «Da draußen schneit es schon tüchtig. Ist Mr. Fowles bereits eingetroffen?»
Sampson spähte durch das Glas der Eingangstüren. «Wir erwarten ihn jeden Moment.»
«Es wird auch mit jeder Minute kälter», setzte Elizabeth hinzu, doch ihr Blick wurde schon von einer Ecke der Lobby angezogen, wo auf einem langen Tisch das riesige Puzzle lag, dem der große, kahlköpfige Mr. Wellington und der kleine, rundliche Mr. Rajput in den vergangenen Monaten unendlich viele Stunden ihrer Zeit gewidmet hatten. Die beiden Männer kehrten mit ihren Ehefrauen drei- oder viermal im Jahr jeweils für zwei Wochen im Hotel ein und verbrachten dann die meiste Zeit damit, nach passenden Puzzleteilchen zu suchen. Das letzte Mal waren sie an Weihnachten da gewesen und hatten große Fortschritte an dem Motiv gemacht, das einen Tempel im Himalaja darstellte, wo Nestor Falls, der Gründer von Winterhaus, einmal gelebt hatte. Mittlerweile konnten sie es kaum noch abwarten, das Puzzle endlich fertigzustellen. Elizabeth half ihnen, sooft sie konnte – zum einen, weil sie Puzzles liebte, zum anderen, weil sie die geradezu unheimliche Gabe besaß, in Windeseile die passenden Puzzleteile zu finden. Mr. Wellington und Mr. Rajput waren immer dankbar, wenn sie sich zu ihnen gesellte.
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