»Nein, Onkel Alfred. Ich war freiwillig dort«, beschwichtigte ich ihn schnell und sah ihn nun über den Tisch hinweg an. In seinen Augen stand die Wut geschrieben, seine buschigen Augenbrauen verdunkelten sein ganzes Gesicht. »Ein Überseekoffer ist durch die Glaskuppel gebrochen und der Regen hat einen Teil der medizinischen Abteilung zerstört. Ich konnte nicht weg«, erklärte ich und unterschlug, dass Mr Reed sehr wohl hatte weggehen können. Er hatte mich mit dem ganzen Schlamassel allein gelassen und dann war ich in das Chaos in seinem Büro gestürzt wie Alice in den Kaninchenbau. Nur dass mich hinter all dem Papier nicht das Wunderland erwartet hatte, sondern nur noch mehr Papier.
»Das ist ja schrecklich!«, rief Tante Lillian schockiert. »Hast du das gewusst, Alfred?«, wandte sie sich an ihren Mann, der recht ratlos dreinblickte. Er hatte es also noch nicht mitbekommen.
»Ich nehme an, dass ich es wohl nachher erfahren hätte«, brummte er in seinen Bart und ich nickte nur. »So, Ani, da du ja heute nur bis Mittag arbeitest, schlage ich vor, ich hole dich um halb eins mit der Kusche ab, dann können wir zusammen essen«, wechselte Onkel Alfred geschickt das Thema, um nicht weiter darauf eingehen zu müssen, dass an seiner Universität Dinge vor sich gingen, von denen er nichts wusste.
Ich sah ihn nur mit großen Augen an. Mir war nicht bekannt gewesen, dass ich heute nur bis Mittag arbeiten musste. Schon wieder etwas, das Mr Reed vergessen hatte, mir mitzuteilen.
Onkel Alfred räusperte sich und erwähnte, dass wir ja anschließend zum Luftschiffplatz fahren könnten, an dem Mr Boyle um halb zwei landen würde. Da ich noch nie ein Luftschiff von Nahem gesehen hatte, wäre es eine gute Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er lächelte Tante Lillian verschwörerisch zu, als ich zusagte, und ich rollte nun doch heimlich mit den Augen.
Die beiden sahen Mr Boyle und mich wahrscheinlich schon als so gut wie verlobt an, nur weil wir uns einmal nett unterhalten hatten. Das war mehr als albern. Ich hatte in der vergangenen Woche nicht öfter als zweimal an diesen Herrn gedacht und keiner dieser Gedanken war schwärmerischer Natur gewesen. Mein Herz war nicht so schnell ins Wanken zu bringen und ich zweifelte schon seit Längerem daran, dass ich überhaupt dazu fähig war, mich wahrlich zu verlieben.
Auf dem Weg zur Bibliothek ging ich die Aufgaben durch, die ich heute erledigen musste. Die Zeitungen hatte ich vernachlässigt und auch in meiner Kammer gab es noch so einiges zu tun. Außerdem vermutete ich, dass es am heutigen Tage mehr Studenten in die Bibliothek ziehen würde als sonst. Erstens, weil heute Samstag war und somit ein vorlesungsfreier Tag. Zweitens, weil viele von ihnen gestern nicht die Gelegenheit gehabt hatten, in der Bibliothek zu lernen. Und drittens, weil alle Menschen neugierig waren und sicher eine Menge Studenten nur aus einem Vorwand heraus ein Buch entleihen würden, um das Chaos zu sehen, das der Überseekoffer angerichtet hatte.
Ein Grund mehr, warum ich mich freuen sollte, heute schon am Mittag wegzukommen.
Es hatte aufgehört zu regnen, Nebelfetzen zogen durch den Park und kalt unter meinen Rock. Ich war mal wieder vor Mr Reed an der Tür der Bibliothek und als ich seine Gestalt durch den leichten Nebel auf mich zukommen sah, kam er mir beinahe schon vertraut vor. Jedes Mal, wenn mein Blick auf ihn fiel, machte sich in meinem Innern ein beklemmendes Gefühl breit, eine explosive Mischung aus Einschüchterung und Wut.
Doch heute früh war die Wut stärker als der Rest meiner Empfindungen. Denn gestern Nacht war mir eine Erkenntnis gekommen und die befähigte mich neuerdings, nicht mehr vor diesem Mann kuschen zu müssen.
»Guten Morgen, Mr Reed«, grüßte ich ihn recht neutral und er sah mich an.
»Guten Morgen, Miss Crumb«, gab er den Gruß zurück und kramte in seiner Manteltasche nach dem Schlüssel.
Innerlich brodelte ich. »Mr Reed, ist es richtig, dass ich an einem Samstag schon am Mittag gehen kann?«, hakte ich sofort nach und Mr Reed öffnete die Tür.
»Das ist richtig«, antwortete er mir, als handelte es sich um eine Selbstverständlichkeit, in die ich schon längst eingeweiht sein müsste.
»Und warum, Mr Reed, haben Sie dann nicht die Güte, mir dies auch mitzuteilen? Hätte mein Onkel es nicht heute morgen erwähnt, hätte ich es nicht gewusst«, redete ich auf ihn ein, während wir die Bibliothek betraten und er sich noch auf dem Weg in den Lesesaal den Mantel auszog und ihn über eine Stuhllehne warf.
Er schnaubte und drehte sich mir zu, während er sich seine Krawatte richtete. »Miss Crumb«, seufzte er, als ob ich ein kleines Kind wäre, doch diesmal würde ich mir das nicht gefallen lassen.
»Sparen Sie sich das«, fiel ich ihm ins Wort und starrte ihn finster an. »Gestehen Sie sich lieber ein, dass Sie nicht unfehlbar sind. Es ist nicht mein Verfehlen, wenn ich solche Dinge nicht weiß, sondern Ihres«, platzte es förmlich aus mir heraus und obwohl ich mich nicht hatte zurückhalten können, fürchtete ich gleichzeitig, dass meine Worte zu scharf gewesen waren für den Anfang dieser Unterhaltung.
Mr Reed sah mich verwundert an. »Sie haben wohl schlecht geschlafen«, kommentierte er nur, drehte sich dann auf dem Absatz um, nahm seinen Mantel in der gleichen Bewegung wieder auf und marschierte auf die Treppen zu.
»Ich habe sogar äußerst schlecht geschlafen, aber das ist sicher nicht der Grund für meine Aufgebrachtheit«, nahm ich den Gesprächsfaden wieder auf, den Mr Reed so plump hatte fallen lassen, und raffte meine Röcke, um ihm die Stufen nach oben zu folgen.
»Es ist also meine Schuld, dass Sie mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden sind?«, drehte er mir das Wort im Munde um und ich schnaufte wütend, als ich hinter ihm herhastete.
»Das habe ich nicht gesagt«, verteidigte ich mich.
»Ich halte Sie hier nicht fest. Sie können jederzeit gehen und Ihrem Onkel schöne Grüße von mir ausrichten«, meinte er recht bissig, während er nach der Klinke seiner Bürotür griff.
»Das hätten Sie wohl gerne!«, fauchte ich und seine Augen richteten sich fest auf mich.
»Ja, das hätte ich gerne!«, zischte er zurück und riss seine Tür auf, um in dem Raum dahinter der Unterhaltung zu entfliehen. Doch der Schritt, den Mr Reed in das Zimmer setzen wollte, wurde ein kleines Stolpern und er klammerte sich mit schockiertem Gesichtsausdruck an seinem Türrahmen fest.
Ich hätte ihm gerne an den Kopf geworfen, dass er gestern noch behauptet hatte, er würde mich hier brauchen, schürzte jedoch lediglich die Lippen, denn er hätte mir sicher nicht zugehört.
»Bei Gott, was ist das?!«, stieß er hervor und seine Augen wurden so weit, dass es mir ungesund vorkam.
»Ihr Büro, Mr Reed. Und zwar so, wie es aussehen müsste, damit man darin effektiv arbeiten kann!«, erwiderte ich erzürnt und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war mir egal, wie trotzig ich dabei aussah, denn ich hatte meinen Schlaf geopfert, um dem Chaos Herr zu werden.
»Waren Sie das etwa?«, fuhr Mr Reed mich an und die Wut erreichte seine Augen. Aber jetzt konnte er mich nicht mehr einschüchtern. Ich kannte seine Schwächen.
»Natürlich war ich das! Aber es hätte nicht meine Aufgabe sein sollen, sondern Ihre!«, antwortete ich ihm im gleichen Ton und Mr Reeds Finger krampften sich um das Holz des Türrahmens, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Das ist mein Büro, Miss Crumb. Sie haben darin überhaupt nichts verloren«, platzte ihm der Kragen und seine Stimme wurde deutlich lauter.
»Das sagen Sie. Aber ich habe versucht, meine Arbeit zu machen. Sie haben es nicht einmal geschafft, mir die nötigen Unterlagen bereitzustellen. Wären Sie hier gewesen, hätte ich Sie ja gefragt. Aber Sie hatten es ja für wichtig erachtet, einfach so zu verschwinden«, keifte ich zurück, löste meine Hände aus ihrer Verschränkung und zeigte anklagend mit dem Finger auf den Bibliothekar.
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