»Du spielst gut, Hamid. Mit Gefühl, ein richtiger Musiker. Ich spielte Klarinette, meine Mutter wollte es so – fürs Hausorchester.«
Hamid zog eine Augenbraue hoch: »Eine musikalische Familie?«
»Ja, liegt in der Familie. Ein Onkel ist Pianist, meine Mutter singt sehr gut.« Lucs Gesicht erhellte sich, er lächelte, als er weitersprach. »Mama hatte sich rührend gekümmert, geduldig, liebevoll. Dabei war klar, dass bei mir nicht viel zu holen war; ich war sportlich interessiert. Obwohl ich ganz passabel spielte.«
»Wie meine Familie, damals. Wir spielten zu siebt auf Hochzeiten und Dorffeiern. Die ganze Nacht, alle gemeinsam.«
»Wir gaben Konzerte bei befreundeten Winzerfamilien.« Luc trat ins Treppenhaus. »Es ist Zeit«, sagte er und bedankte sich.
Ein Getriebener, dachte Hamid, trat einen Schritt zurück und sagte: »Geh mit Gott.«
Luc lachte trocken.
Hamid schloss die Tür.
Draussen kroch der kalte Novembernebel einer formlosen Anschuldigung gleich durch die Kleider bis in seine gekränkte Seele. Nach einer Runde um den Block hatte er genug und teilte dem Boxerhund mit, dass er morgen mit Frauchen wieder seinen gewohnten Rundgang habe. Der Hund winselte, er hätte gerne noch den Waldrand inspiziert. Zum Trost nahm er ihn in seine Wohnung, wo er sich freudig auf dem Teppich vor dem Fernseher wälzte. Luc füllte sich ein Glas mit Wein, setzte sich aufs Sofa und klemmte die kalten Füsse unter den Hund, der es sich widerstandslos gefallen liess. Nach dem dritten Glas kam er ins Grübeln. Er dachte an seine Zukunft; dass sein Leben dringend einer Änderung bedurfte; dass er sich vorstellen konnte, diese Wohnung nicht nur vorübergehend zu bewohnen; dass er sich keinesfalls dem Alkohol ergeben durfte. Vor allem das nicht.
Aziz Bounabi sass schweigend hinter Luc und Thierry. Die Pistole in seiner rechten Hand pendelte von Fahrer zu Beifahrer und wieder zurück, der Oberkörper schaukelte unruhig, ein Fuss steckte unter dem Fahrersitz, der andere zitterte unablässig.
Thierry Rodenbach dachte an Juliette, die in seinem Mercedes nach Hause fuhr, während er diesem verrückten Terroristen ausgeliefert war. Falls ihm etwas zustossen sollte, trug sie die Schuld, befand er, und irgendwie schien dieser Gedanke tröstlich; er stellte sich seine Beerdigung vor, wie Juliette unter Schuldgefühlen zusammenbricht, unablässig seinen Namen murmelnd.
Luc reihte sich auf der rechten Spur hinter einem Zementtransporter ein. Er hielt grosszügig Abstand, der Verkehr rollte unaufgeregt. Vor dem Anstieg auf die Rhonebrücke überholte der kleine Peugeot, der ihm seit der Raststätte gefolgt war.
Eine abfallende Tonfolge kündete seinen Disponenten an: »Hast du’s gehört?«, kam Meyer grusslos zur Sache.
»Ich hatte Pause«, antwortete Luc ausweichend und hielt die offene Hand beschwichtigend Richtung Aziz, Thierry versah er mit einem warnenden Blick. Dieser verstand sofort: Klappe halten.
»Schlimme Sache in Orange.«
»Ich bin auf der Rohnebrücke, die Stadt liegt direkt vor mir.«
»Ein Attentat, irgendwas in der Art, am besten schaltest du das Radio ein. Wahrscheinlich schliessen sie die Zufahrten und es gibt Kontrollen und Sperren der Autobahnpolizei.«
Luc sah unauffällig in den Fonds der Kabine, von wo aus Aziz ihn mit dunklen Augen anstarrte. Der Junge gehört also dazu, dachte er, und erstmals wurde ihm der Ernst der Lage bewusst.
»Attentat? Wann?«
»Eine Schiesserei, Tote, Verletzte, grauenhaft.«
»Ich schalte auf ›France Info‹ . Die senden pausenlos die neuesten Nachrichten. Normalerweise erspar ich mir das, schlägt nämlich übel auf die Laune.«
»Gute Idee, halt dich auf dem Laufenden … Schaffst du es bis um sieben nach Aarau?«
»Wenn nichts dazwischenkommt.«
»Pass auf dich auf.«
»Keine Sorge, wir kommen klar.«
»Wir?«
»Wir?, das … ist nur so dahergesagt.«
»Ach so.«
Den Blick Aziz zugewandt, erklärte Luc, dass er jetzt das Radio einschalte und daher ein paar Knöpfe zu drücken habe. Er wies mit dem Zeigefinger auf alle Knöpfe und Tasten, die zum Gerät gehörten. »Die hier oberhalb«, er zeigte auf einige mit Zeichen versehene Tasten, »die gehören nicht dazu.«
»Wer war das?«, unterbrach ihn Aziz.
»Das war Meyer, mein Disponent. Er hat Zugang zum Bordcomputer. Über GPS sieht er, wo ich mich befinde.«
»Wir sollten Meyer sagen, was los ist«, meinte Thierry und Aziz erwiderte, dass es hier keine Hilfe benötige: »Ihr tut was ich sage, und alles ist gut.«
»Verstanden, reg dich nicht auf«, antwortete Thierry, »der mit Waffe hat die Macht. Auch wenn sonst die Sache anders aussehen würde.«
»Thierry, halt mal deine Klappe, die Nachrichten beginnen.«
»Thierry«, wiederholte Aziz, froh ihn beim Namen nennen zu können.
Thierry Rodenbach rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Nasenspitze und nestelte nervös an den Knöpfen seines rosa Hemdes; ihm war plötzlich heiss, er schwitzte und verlangte, dass Luc endlich die Klimaanlage einschalte.
»Funktioniert mit Klimaautomatik, hält die Temperatur auf konstant 23 Grad.«
»Dann öffne die Fenster. Ich krepiere.«
»Zieh die Jacke aus.«
»Ich ersticke, hier fehlt Sauerstoff! In diesem Karren wird einem übel. So eine verdammte Dreckskiste!«
»Halt die Fresse«, brüllte Luc und schlug mit der flachen Hand auf die Ablage.
»Die Fenster bleiben zu«, bestimmte Aziz und war überrascht, welche Autorität ihm die Waffe verlieh: Nicht ein Murren war zu vernehmen, nur die Radiostimme kündete eine Sondersendung an.
Radio France Info, 16:30 Uhr:
›Marianne Blésier, Sie befinden sich in Orange.‹
›Bonjour Cedric Crissier. Es herrscht Unklarheit, was genau passiert ist. Der Tatort befindet sich am Cours Aristide Briand, einem Parkplatz eingangs der Altstadt. Ersten Berichten zufolge schossen mehrere bewaffnete Männer auf eine Polizeieinheit, die sich vor dem Stadttheater aufhielt. Es heisst, dass einige der Täter fliehen konnten.‹
›Wie ist die aktuelle Situation in Orange, Marianne Blésier?‹
›Die Rettungsteams sind eingetroffen, man spricht von mindestens zwei Toten und zahlreichen Verletzten, darunter Zivilisten, die sich dort aufhielten … Ich erhalte eben eine Meldung, dass ein Juweliergeschäft überfallen wurde … Die Polizei durchkämmt die Altstadt nach weiteren Tätern.‹
›Gibt es Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund?‹
›Noch ist nichts sicher, erste Zeugenaussagen deuten darauf hin.‹
›Marianne Blésier, danke für Ihre ersten Einschätzungen.‹
»Das genügt wohl«, meinte Luc und stellte das Radio leiser. Er lenkte den Lkw über eine Brücke und eine langgezogene Linkskurve auf die A7, die Autoroute de soleil , die von Marseille nach Lyon führte.
Polizeifahrzeuge waren keine zu sehen, dafür kreisten blauweisse Helikopter am pastellfarbenen Vorabendhimmel. Luc kannte die kleine Stadt, in der das Attentat geschehen war. Auch den Parkplatz, auf dem die Einheimischen täglich um die freien Plätze kämpfen mussten mit Touristen, die von weit hergereist waren, um das römische Erbe des Städtchens zu sehen, die verwinkelten Gassen und die historischen, von Platanen beschatteten Plätze.
Thierry schaute mit zusammengekniffenen Augen zu einem Helikopter, der in geringer Höhe über der Autobahn kreiste – zu gerne hätte er gewunken, geschrien, eine Leuchtrakete geschossen, die rot brennend bogenförmig in den Himmel gestiegen wäre. Oder wenigstens einen Rettungsring aus dem Fenster geschmissen. Warten und sich dem Schicksal überlassen: das war nichts für ihn. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, wenn er sein Leben nicht gefährden wollte. Er brauchte einen Plan und einen kühlen Kopf. Beides fehlte.
Читать дальше