»Wenn es nicht so traurig wäre, müsste ich selber lachen.« Thierry drehte sich auf seinem Hocker und fragte Luc nach dem Namen.
»Luc.«
»Gut, Luc, freut mich, Thierry ist mein Name, Thierry Rodenbach, ich wohne in Archamps, direkt an der Schweizergrenze. Eigentlich aus Genf, aber die Mieten dort sind zu hoch. Offiziell bin ich sogar immer noch Genfer, wegen den Steuern, wohnhaft als Untermieter bei einer meiner Cousinen.«
»Erzählst du mir jetzt dein ganzes Leben?«
Thierry nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich den Schaum mit dem Handrücken von der Oberlippe. Herausfordernd blickte er Luc in die Augen: »Kein Problem, Luc, ich bin genervt, dann rede ich gelegentlich zu viel. Lassen wir das, alles in Ordnung.«
Sie sassen wieder stumm an der Theke und musterten sich aus den Augenwinkeln. »Wie kommst du jetzt nach Hause?«, fragte Luc beiläufig.
»Irgendwie.«
»Hast du Geld?«
»Klar.«
»Ich fahre nach Genf. Fünfzig Euro.«
»Halsabschneider.«
»Bei mir wachsen die Bäume nicht in den Himmel, ich habe eine Familie zu versorgen. Ausserdem werde ich gebüsst, wenn die Firma Wind bekommt. Ich fahre dich zum Autobahnkreuz A40/A41. Direkt neben Archamps, Hauslieferdienst, sozusagen.«
»Dreissig«, forderte Thierry.
»Fünfzig, Monsieur Rodenbach, damit kommst du gut weg, glaub mir.«
Schulterzuckend willigte Thierry ein, wegen den paar Euros stritt er nicht. »Wann fahren wir?«
Luc blickte auf seine handgefertigte Uhr: »In einer Dreiviertelstunde. Ich muss die Ruhezeiten einhalten.« Er beschrieb Thierry den weissen Sattelschlepper, der neben dem Wäldchen auf dem Parkplatz stand und wies ihn an, genau um fünfvorhalbvier an die Beifahrertür zu klopfen.
»Die Pause kommt mir gerade recht.«
»Siehst du.«
Luc zahlte, verabschiedete sich ungewohnt einsilbig von Daciana und verliess zügigen Schrittes die Bar, Thierry blieb sitzen und bestellte ein weiteres Bier, das er sogleich hinunterstürzte. Mehrmals sprach er Daciana an: »Sie kennen doch diesen Fahrer?«
Sie tat, als verstünde sie ihn nicht und mied den Augenkontakt; dieser Thierry war ihr suspekt, ein unstetes, irgendwie seltsames Temperament. Auf jeden Fall eigenartig. Luc hätte ihn besser stehengelassen. Sie biss auf einen Fingernagel und bereute, ihm ihre Befürchtungen verschwiegen zu haben.
Damit die Ruhezeiten den gesetzlichen Vorgaben entsprachen, schrieb Luc den Fahrtenschreiber mit Hilfe einer illegalen Software um. Die Autobahnpolizei liess sich problemlos überlisten, bei einer Analyse durch die IT-Experten am Zoll würde jedoch sofort ersichtlich, dass die Angaben gefälscht waren. Doch da seine Arbeitgeberin, die Transportfirma Caloche SA , etliche Mitarbeiter aus der Grenzregion beschäftigte, wurde er an den Kontrollstationen für gewöhnlich anstandslos durchgewinkt. Zumal bei einem Unfall von Früchten keine besondere Gefahr ausging, ganz im Gegensatz zu den Chemikalien, Sprengstoffen und anderen explosiven Ladungen, die täglich auf jämmerlichen Trucks kreuz und quer durch Europa gekarrt wurden.
Luc überprüfte die Eingaben und verschloss das Gerät. Anschliessend kippte er den Schaltknüppel zu Seite, stieg zwischen den Sitzen nach hinten, zog sich die Schuhe aus und legte sich auf das Ruhebett.
Ein Klopfen an der Beifahrertür schreckte ihn aus dem Schlaf. Luc rappelte sich hoch und sah auf die Uhr: Eine Viertelstunde zu früh. Es klopfte erneut. Er zwängte sich nach vorne und öffnete die Tür. Ein junger Mann schwang sich blitzschnell in die Kabine und hielt ihm die Mündung einer Pistole an die Schläfe.
»Auf den Fahrersitz, sofort!«
Luc tat, was der Fremde befahl.
»Hände weg von den Armaturen. Schön brav bleiben, dann geschieht nichts. Schön brav und keinerlei Dummheiten.«
»Ganz ruhig«, sagte Luc, während der lange, sehr dünne Mann über den Beifahrersitz auf das Ruhebett stieg, von wo aus er wieder die Pistole auf Lucs Kopf richtete. Mit heiserer Stimme verlangte er nach Spanngurten.
»Die sind im Werkzeugkasten. Der lässt sich nur von aussen öffnen.«
»Überleg dir gut, was du sagst!«
»Im Abteil über deinem Kopf … Vielleicht hat es da Ersatzgurten.«
Luc beobachtete aus den Augenwinkeln den jungen Mann, der sich mit spinnenartigen Bewegungen an den Stauraumabteilen zu schaffen machte. Er trug ein marineblaues Polo-Shirt mit der Aufschrift ›Camp David‹. Um seine Beine schlotterte eine schwarze Trainingshose, deren linkes Bein verschmutzt und auf Kniehöhe eingerissen war. Ein nervöser, bewaffneter Nordafrikaner, der nach Angst roch. Endlich fand er die Gurte. Er warf sie auf den Beifahrersitz und drohte: »Ich mache hier keine Spielchen, verstehst du? Mir ist egal, ob ich draufgehe, ich habe nichts zu verlieren. Ich drück ab. Einfach so, wie nichts.«
Vorsichtig legte Luc die Hände flach auf die Oberschenkel. »Gut so?«, fragte er und erhielt als Antwort einen Schlag ins Gesicht.
»Ich habe gesagt: ›Keine Spielchen!‹, verstanden?«
Luc nickte und folgte dem Befehl, die Spanngurte um sich zu legen. »So ist gut«, kommentierte der Entführer und fädelte das Ende in den dafür vorgesehenen Schlitz. Anschliessend zog er das Band mit der Metallratsche fest, bis es Luc tief in den Magen schnitt.
»Es schmerzt«, presste Luc zwischen zwei Atemzügen hervor und verzog das Gesicht. »So kann ich nicht fahren, unmöglich.«
Der Mann überlegte, schliesslich lockerte er die Fesselung, bis sich seine Geisel mit einem kehligen Seufzer entspannte. Dann zog er mehrmals ruckartig an der Ratsche, bis Luc vor Schmerzen aufschrie.
»Ich habe dich in der Hand … Verstehst du das?«
Lucs Halsschlagader trat dick und pumpend hervor; ihm war, als explodiere vom Druck des Blutes sein Schädel. Als der Mann die Gurte wieder lockerte, bedankte sich Luc, was der Entführer irritiert zur Kenntnis nahm.
Nun sassen beide schweigend in der Kabine. Luc vorne, die Hände am Lenkrad, der andere hinter ihm auf der Liege, die Pistole seitlich an der Nackenstütze angelegt. Er plante den nächsten Schritt, begann vor Überforderung zu husten und spuckte auf die Gummimatte.
»In meinem Lkw wird nicht gespuckt«, befahl Luc und war froh, die Stille durchbrochen zu haben.
Der Mann öffnete den Mund, um sich zu rechtfertigen, besann sich aber im letzten Moment. »Hier befehle ich!«, stellte er klar.
Luc begriff, dass er mit dem unberechenbaren Feind sprechen und sein Vertrauen gewinnen musste: »Ich heisse Luc Rapin, dreiunddreissig, und habe eine Tochter, achtjährig. Lara-Lea.«
»Was für ein idiotischer Name.«
»Sie spielt«, fuhr er unbeirrt fort, »immer noch gerne mit ihrem Plüschhund. Er heisst Rappi. Das Ding ist schon ganz zerfetzt, ein Ohr fehlt, aber geflickt haben will sie ihn auf gar keinen Fall.«
»Rappi«, lachte der Mann.
»Lara erwartet mich, sie braucht mich.«
»Mach, was ich sage, dann passiert nichts. Nimm mit niemandem Kontakt auf, Hände weg von den Armaturen … Erklär mir, was du tust; ich will wissen, was du tust!«
Luc drehte den Kopf und fasste den Mann ins Auge. Dieser wurde sogleich nervös, seine Augen weiteten sich schreckhaft, die Kaumuskeln zuckten unter der Haut der hageren Wangen, gesunde kräftige Zähne blitzten auf. Er ist eher verstört als bösartig, urteilte Luc. Einer, der zwar im falschesten Moment den Verstand verliert, ansonsten jedoch halbwegs normal zu sein scheint.
Ob er etwas fragen dürfe?
»Kommt drauf an«, sagte der Mann und drückte ihm wieder die Pistole an den Hals.
»Mich würde interessieren, was du vorhast.«
»Ich muss weg.«
»Dabei soll ich helfen?«
»Ich habe nichts zu verlieren.«
»Beruhige dich«, sagte Luc. »Du hast die Waffe, du hast die Macht. Ich will leben. Ich bin kein Held.«
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