Nach diesem Ereignis war es Sonntag geworden, und es gehörte zu den Freuden seiner Tante, dass er sie zur morgendlichen Messe begleitete. Er tat es ihr zu Gefallen, nicht etwa, weil er die Predigten übermäßig schätzte, die Caspar Mauritius von der Kanzel unter das Kirchenvolk ausschickte. Für die Zeit, da Elsbeth auf seinen Arm gestützt ging und er sie nach St. Jacobi zu ihrem Platz führte, war es für sie beinahe, als habe das Leben ihr verspätet doch noch zu einem Sohn verholfen. Der Pastor empfahl die Seele des verstorbenen Ratsherrn der göttlichen Gnade, und Ulrich dachte, wie bestenfalls eine Handvoll Leute nach seinem Bericht sich Gedanken anderer Art über diesen Tod machte. Er nahm innerlich Abschied von dem rätselhaften Aussehen des Leichnams und von dem noch rätselhafteren kalten Licht, bei dessen Anblick das versammelte Kirchenvolk wohl einen Teufelsspuk ausgemacht hätte.
Die jungen Leute hatten sich den Sonntagnachmittag zur Zerstreuung und allerlei fröhlichem Zeitvertreib eingerichtet, und es tat ihm gut, mit Agnes und Gerdt Freunde zu besuchen. Einige aus der geselligen Runde, die so zusammenkam, waren im gleichen Alter und er kannte sie zum Teil noch aus Kindertagen. Seine Tante setzte sogar gewisse Hoffnungen in diese Zusammenkünfte und wurde nicht müde, Ulrich zu schildern, wie vorzüglich fromm und tüchtig vor allen anderen jungen Frauen doch Gundel sei, eine der Töchter der befreundeten Familie Engelbrecht. Aber wenn Ulrich sich ihre Aufmerksamkeiten und ihr helles Lachen auch gerne gefallen ließ, so war es ihm doch nicht bedeutender als das anderer hübscher Mädchen, und keinesfalls kam ihm der Gedanke, er könne um ihretwillen für immer in Hamburg verweilen.
Die neue Woche begann für ihn nicht weniger trübe und eintönig, als die alte geendet hatte, doch am Morgen des folgenden Tages fand er alles seltsam verändert. Kaum hatte er das Kontor betreten, wurde er auch schon von Tilda aufgehalten, was für gewöhnlich der Auftakt für eine ihrer langen Belehrungen darstellte, die, wie sie wohl wusste, ihm zuwider waren. Diesmal jedoch teilte sie ihm in einem langen Wortschwall mit, dass am Abend vorher noch ein amtliches Schreiben für ihn eingetroffen und hinterlegt sei. Nachdem sie zu Ende geredet hatte, ließ sie sich diesen Brief, um die Angelegenheit noch bedeutsamer zu gestalten, umständlich vom alten Harm reichen, bevor sie ihn endlich aushändigte.
Das Siegel der Hansestadt war Ulrich bereits vertraut. Er entfaltete den Bogen und überflog rasch, was darauf geschrieben stand. Die Zeilen verhießen eine Wendung der Dinge, mit der er nicht gerechnet hatte, und plötzlich ahnte er, dass mehr darin sein mochte als nur, dass sich das Geschehen des heutigen Tages für ihn änderte. Ein Seefahrer, der auf ein unbekanntes Eiland zu steuerte ohne rechte Kenntnis von den Untiefen und Strömungen vor Ort, mochte sich ähnlich fühlen wie er in diesem Augenblick.
Soviel stand fest, dass man seinen Bericht über den Leichnam von Brempts gelesen hatte, und hohe Würdenträger im Rathaus baten ihn nun umgehend zu einer vertraulichen Sitzung, damit er ihnen auf ihre Fragen antworte.
Seiner Stiefmutter stand die Neugier ins Gesicht geschrieben. Zu anderen Zeiten hätte ihn dies nur gereizt, alles vor ihr zu verbergen, aber er war milde gestimmt und verriet zwar nicht eben viel, gab aber wahrheitsgemäß an, dass er einigen Herren im Rathaus seinen Totenbericht der vergangenen Woche erläutern solle.
Eigenartigerweise schien Johann Hesenius weder sonderlich überrascht, noch äußerte er Unmut, darüber, dass sein Sohn aufs Neue der Arbeit fern bleiben würde. Ulrich war hierüber froh, konnte sich seine Stimmung aber nicht recht erklären. Irgendwie war es, als sei das Band der festen Gewohnheiten, das zwischen ihnen bestand, eingerissen und etwas anderes, noch Unbestimmtes wäre an seine Stelle getreten.
Da er aufgefordert war, sogleich vorzusprechen, blieb keine Zeit, sich auf die angekündigte Befragung vorzubereiten, aber was er zum Tode von Brempts niedergeschrieben hatte, war fest in seinem Kopf verankert, dazu manches mehr, das ihn die Untersuchung gelehrt hatte.
Draußen hatte es inzwischen zu schneien begonnen, aber die Flocken fielen nicht sonderlich dicht und der bitterkalte Wind der vergangenen Tage war eingeschlafen. Bald stiefelte er vorbei am Dom, dessen Inneres in der alten Zeit vor der Reformation, wie man sich erzählte, so prachtvoll geschmückt war wie kein zweites Gotteshaus im Norden. Aber das lag weit zurück und bedeutete längst nichts mehr. Eine Kirche ohne Gemeindevolk hatte etwas Bedrückendes, wie Ulrich fand. Kleine Behausungen rankten am Kirchenschiff empor. Sie füllten allmählich jede Nische zwischen den Mauervorsprüngen, hässliche Anbauten, die wucherten wie schorfiger Pilz an der Rinde eines alten, kranken Baumes. Der Turm wenigstens erhob sich unverändert, hoch und trutzig ragte er auf wie ein steinerner Zwilling, den man St. Petri mit seiner spitzen Haube zur Seite gestellt hatte.
Am Ende des langen Straßenzugs, auf dem er unterwegs war, wurde er unerwartet aufgehalten. In einer aufgeregten Menschenmenge standen die Leute dicht an dicht und versperrten ihm den Weg. Inmitten des Rings, in dem Männer, Frauen und Kinder alles umstanden, sah man zwei Wagengespanne, die hoffnungslos ineinander verkeilt waren, wobei sich eines von beiden widernatürlich weit zur Seite neigte, als sei die Zeit für das Gefährt angehalten und kurz vor jenem Moment, da es zu Boden krachen müsse, alle Bewegung eingefroren. Der schlimme Unfall konnte nur einige Minuten zurück liegen. Aus der Menschentraube stiegen streitende Stimmen auf, Frauen trösteten ihre schluchzenden Kleinen und in das allgemeine Gemurmel mischte sich das ängstliche Schnauben und Röcheln eines verletzten Pferdes. Er mühte sich, eine Lücke zwischen den vielen Gaffern zu finden, fand mehr schlecht als recht eine Gasse, wurde zur Seite geschubst und landete kurz auf dem schneebedeckten Boden, der sich an einigen Stellen bereits schmutzig rot gefärbt hatte.
Zwischen den Beinen der Umstehenden erspähte er das gescheckte Fell eines der Zugpferde. Das Tier war gestürzt und lag hilflos auf einer Seite. Von Zeit zu Zeit zuckten seine Hinterläufe und in verzweifelter, sinnloser Anstrengung strampelten dann die Hufe. Nur Hals und Kopf, die noch im Geschirr steckten, vermochte es zu erheben, weiter reichten seine Kraft über die eigenen Gliedmaßen nicht. Blut trat aus den schwarzen Nüstern, und in den weit aufgerissenen Augen standen so viel Schmerz, Leid und Todesangst, wie eine Kreatur nur empfinden konnte. Eine Welle tiefen Mitleids stieg in ihm auf: Das Tier war dem Tod geweiht, und er hoffte nur, dass sich bald ein Soldat einfand, ihm mit der Muskete den Gnadenschuss zu geben.
Ulrich wandte sich ab und schaffte es endlich, sich aus dem Reigen der Menschen zu befreien. Er folgte ein Stück der kreuzenden Straße, hielt sich rechts und hatte bald den Platz bei dem Rathause erreicht. Zur Linken, an der Trostbrücke, lag die Börse, geradeaus vor ihm erstreckte sich hinter einem vergitterten Zaun die Front des Alten und Neuen Rathauses. Da er sich mit der Ordnung der Räume dahinter nicht auskannte, steuerte er auf gut Glück das Hauptportal an. Die Namen der 21 Kaiser, deren Standbilder die Fassade schmückten, hatte er sich einst als kleines Kind so spielend leicht gemerkt, dass Johann Hesenius nicht umhin konnte, väterlichen Stolz zu empfinden. Jetzt, da er über diese Schwelle treten sollte, empfand er leise Beklemmung, und er hoffte inständig, dass seine Zungenfertigkeit in den nächsten Stunden seinem Gedächtnis nicht nachstehen würde. Der Wachmann ließ ihn mit Blick auf das Amtssiegel seines Briefes anstandslos durch, doch in der Vordiele hieß man ihn dafür so lange zu warten, dass er am Ende fast schon nicht mehr glaubte, überhaupt vorgelassen zu werden. Endlich, als er längst müde geworden war, die Schnitzereien und Wandgemälde an den Wänden zu mustern, führte ihn einer der Bediensteten eine Treppe hinauf ins nächste Stockwerk. Auf halbem Weg begegneten sie einem jungen Burschen, fast noch ein Knabe, der oben auf einer Leiter stehend, in einer engen Nische den Wandputz säuberte oder für eine neue Bemalung vorbereitete. Hinter der Tür, auf die sie zugingen, schien eine lebhafte Debatte im Gange zu sein, denn er hörte widerstreitende Stimmen.
Читать дальше