„Wartet bitte einige Augenblicke und richtet eure Augen dabei einfach nur dorthin, wo Ihr im Laternenlicht die Hand eures toten Freundes erblicktet“, bat Ulrich.
Er hörte den anderen seufzend atmen, gleich darauf vernahm er ein Räuspern, dann aber folgte der Ausruf des Erstaunens, den er erwartet hatte.
„Was ist es?“ Die Frage kam flüsternd.
„Ich weiß es nicht“, bekannte Ulrich. Er vermochte jetzt im Widerschein des Lichts die Gesichtszüge Lengsdorps zu erkennen, der gebannt auf die Knie gesunken war, das Wunder aus der Nähe zu betrachten, und der nun zaghaft begann, die schimmernde Haut zu betasten. Doch sprang er im nächsten Augenblick so plötzlich auf, als hätte er unerwarteten Schmerz erlitten. Hastig keuchend wich er mehrere Schritte zurück, und als er zu sprechen begann, war die sonst so sichere Stimme mit Furcht beladen.
„Meint Ihr nicht, dass es, dass es … Verbreitung finden könnte?“
Ulrich verstand. Er schüttelte den Kopf.
„Nein. Habt keine Angst! Was immer es sein mag, dieses Leuchten stellt keine Krankheit dar, die den Tod eures Freundes bewirkt hätte. Er starb, weil etwas seinen Schädel zertrümmerte. Eure Ärzte werden dies ebenso festgestellt haben wie ich selbst.“
Ulrich trat selbst nah an den Arm des Toten heran.
„Seht her“, sagte er und stellte befriedigt fest, dass Lengsdorp seinem Urteil offenbar vertraute, denn dieser hatte sich ebenso rasch wieder gefangen, wie er zuvor von Unruhe gepackt worden war, und beugte sich neuerlich ohne Scheu über die ausgestreckte Hand.
„Ihr werdet bei genauer Betrachtung feststellen, dass der Lichtschimmer seinen Ausgang vom Daumen und von diesen beiden Fingern nimmt, ja mehr noch von den Kuppen dieser Glieder, und mir scheint, dass dies keinen Zufall darstellt!“
„Was meint Ihr?“
„Ich meine, dass von Brempt vor seinem Tod etwas sehr kleines, leuchtendes … nun, was auch immer – ich will sagen, er könnte etwas zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten haben, etwa so“, sagte Ulrich und dabei führte er die Bewegung mit der Rechten aus, wobei ein Zoll Luft zwischen seinen Fingern verblieb, was gleichsam ein Bröckchen von jenem Unbekannten darstellte, das er zu beschreiben suchte: „Stellt Euch irgendetwas vor, das auf unerhörte Art leuchtet. Und ferner wollen wir annehmen, dieses Leuchten hätte sich, allein, indem es auf die beschriebene Weise angefasst wurde, an den besagten Stellen der Haut abgedrückt, nicht viel anders, als wenn jemand von uns unbedacht ein undichtes Tintenfass zur Hand nähme, so dass sich umgehend die Finger schwarz färben.“
Er sah Erstaunen aber auch Zustimmung in den Augen des anderen.
„Habt Ihr von einer solchen Begebenheit schon einmal gehört?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, … oder vielleicht, … ich hörte von einem Gerücht, wonach Boyle in Oxford einen edlen Stein besitzen soll, welcher bisweilen auf eine seltsame Art zu leuchten vermag. Aber ich habe nie vernommen, dass derlei Kraft sich auf die Haut eines Menschen übertragen hätte. Alles in allem muss ich Euch gestehen, dass ich in dieser Begebenheit nicht mehr als bloße Vermutungen zum Besten gebe. Doch sollte ich recht haben, so würde es uns vielleicht möglich sein, den Lichtschimmer wieder von der Haut abzuwaschen. ohnehin scheint mir, das Geheimnis, welches wir beide gerade gesehen haben, sollte tunlichst keine Verbreitung erfahren. Die Leute fürchten sich vor den Dingen, die sie nicht verstehen, und sehen alsbald Teufelskünste am Werk. Es möchte euren Freund am Ende übel beleumden, sollten sich Gerüchte verbreiten von einem höllischen Licht, welches seinem Körper anhaftete.“
Falls Lengsdorp noch Unschlüssigkeit und Zweifel in sich getragen hatte, so bewirkte allein die letzte von Ulrichs Überlegungen, dass diese verflogen.
„Was kann ich tun?“, fragte er, wie jemand, der Unterweisung von seinem Lehrer erhofft.
„Vorerst versucht bitte einfach nur eine Schüssel mit guter Seifenlauge und eine Bürste zu besorgen. Derweil werde ich während eurer Abwesenheit versuchen, ob sich nicht wenigstens eine kleine Probe des Schimmers von den Fingerkuppen abnehmen und aufbewahren lässt.“
Lengsdorp drückte nur kurz seinen Arm, sein Einverständnis zu signalisieren. Vor der Türe angelangt stellte Ulrich mit Erleichterung fest, dass die wortkarge Ergebenheit der beiden Soldaten im Gewölbe durch nichts zu erschüttern war.
Weder schienen sie sich darüber zu wundern, dass die Herren ein weiteres Mal das Licht ihrer Laterne verlöschen ließen, noch zeichnete sich eine Spur fragender Neugier in den Gesichtern ab, derweil einer von ihnen mit Lengsdorp auszog, die Lauge heranzuschaffen.
Im Licht der neu entzündeten Laterne mühte Ulrich sich wenig später mit einem kleinen Schaber, dessen Metallblatt einer stumpfen Schneide gleichkam, eine winzige Spur des nunmehr freilich wieder gänzlich unsichtbaren Lichtschimmers von den Fingern abzulösen und in einem weiteren seiner Gläschen aufzufangen. Er tat dies mit größter Vorsicht, da die Haut spürbar bereits alle elastische Spannkraft, wie man sie vom lebenden Gewebe gewohnt ist, verloren hatte.
Der Ertrag war am Ende kaum auszumachen. Hätte er nicht mit einem scharfen Skalpell noch etwas von den Fingernägeln abschneiden können, so mochte man ebenso glauben, das frisch verschlossene Glas in seiner Hand sei leer, doch war Ulrich sicher, dass er einige Hautschuppen hatte gewinnen können.
Es klopfte an der Tür, und gleich darauf trat Lengsdorp wieder in die Kammer, einen grob gearbeiteten Holzeimer vor sich her schleppend. Etwas von der hellgrau gefärbten, leicht dampfenden Lauge darin spritzte über den Steinboden, als er ihn absetzte und so weit zurecht schob, dass Ulrich mit der Waschung beginnen konnte. Die obenauf schwimmende Bürste war allerdings derart groß und klobig, dass sie nicht zu gebrauchen war. Bald hatte er seine kleine Taschenbürste wieder hervorgekramt, die für ihr Ansinnen weit besser geeignet schien. Es war die wohl seltsamste Waschung, die man sich vorstellen konnte, da sie bei Lichte besehen als überflüssiges Possenspiel erscheinen mochte. Weder war die Hand schmutzig, noch wollte sich durch das Waschen überhaupt eine sichtbare Veränderung einstellen.
Nach einigen Minuten in denen er die Finger wieder und wieder eingeseift und gestriegelt hatte, entbot sich Lengsdorp, ihn ablösen, doch Ulrich fand, dass die Haut unter der Behandlung, die er ihr angedeihen ließ, bereits gelitten hatte, und er fürchtete, sie möchte stellenweise endlich vom Fleisch reißen, und so erklärte er, dass sie es stattdessen wagen wollten, ein weiteres Mal das Laternenlicht auszublasen, denn ob seine Bemühungen den erhofften Erfolg erzielt hatten oder nicht, konnte allein die Dunkelheit ihnen verraten.
Als die Nachtschwärze sie ein weiteres Mal umfing, verspürte er den pochenden Herzschlag in seiner Brust. Er hörte die Atemzüge des anderen, der jetzt ebenso angestrengt in die Schwärze starrte wie er selbst, und hielt unwillkürlich seinen eigenen Atem an, als vermöchte dies seine Sinne zu schärfen.
Nichts.
Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und wartete, wie er es in den beiden Malen zuvor getan hatte. Die Finsternis blieb unverändert. Sein Herz schlug jetzt langsamer, eine Welle der Zuversicht breitete sich in seinem Körper aus.
„Es ist verschwunden“, flüsterte Lengsdorp schließlich.
Ja, das rätselhafte, schimmernde Licht war von dem Toten gewichen. Wenn sie später von Brempts Leichnam herrichteten und ihn ins Totenhemd kleideten, so würde niemand mehr eine Spur dessen entdecken, was sie beide gesehen hatten, und er wusste, das war gut so.
Als Lengsdorp sich einige Minuten darauf von ihm verabschiedete, hatte sein Gesicht das einnehmende Lächeln wiedergefunden, mit dem er Ulrich gut zwei Stunden zuvor begrüßt hatte, und dies obwohl ihn der ungewollt lange Aufenthalt im Zeughaus, wie er erklärte, um eine recht bedeutsame Unterredung an anderer Stelle gebracht hatte. Sie verabschiedeten einander mit einem herzlichen Händedruck und Ulrich versprach, seinen Bericht zügig niederzuschreiben und dafür Sorge zu tragen, dass er dem Kaufmann so schnell wie möglich übereignet werde. Als Lengsdorp das Eingangsportal durchschritt, schien ihm noch etwas eingefallen zu sein, da er inmitten der Bewegung innehielt und sich ein letztes Mal umwandte.
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