Die Wunde selbst sprach nicht gegen einen Sturz, doch fand er ihre Lage am Schädel eigenartig. Er versuchte sich verschiedene Arten vorzustellen, von einer Fleetbrücke zu stürzen, aber es gelang ihm nicht gut, und in den Bildern, die er heraufbeschwor, ruderte der Fallende stets verzweifelt mit den Armen und Beinen.
Aufflackerndes Licht riss ihn aus seinen Überlegungen. Wie um das Ende der Untersuchung anzumahnen, erlosch gleich darauf eine der bereits tief herabgebrannten Kerzen im Raum. Es war Zeit, die Beschau zu beenden. Den Körper wieder auf den Rücken zu wälzen, erwies sich als einfach. Er begann gerade seine Utensilien einzusammeln, als ihm einfiel, es könne vielleicht hilfreich sein, auch das in der Ecke abgelegte Kleiderbündel in Augenschein zu nehmen.
Doktor Winckel oder seine Helfer musste es Mühe bereitet haben, den Körper inmitten der Totenstarre zu entkleiden, wie er einer völlig zerrissenen Ärmelnaht am Gehrock entnehmen konnte. Beinkleid und Mantel des Toten waren feucht und klamm und überaus schmutzig. Breite, schwarze Schlieren zeichneten sich an Wollstoff und Leinen ab, und Ulrich fragte sich, warum die Soldaten den Leichnam achtlos durch allerlei Unrat geschleift hatten, ehe sie ihn auf ihre Bahre luden. Am Mantel waren selbst die Haare des gewiss kostbaren Pelzkragens schlammgetränkt und dadurch büschelweise verklebt.
Als er die umgeschlagene Innenseite des Kragens betastete, erfasste seine Hand modrige, dunkle Erdklumpen, vermischt mit kleinen Stein-chen, Blättern und Gras. Er wollte die Hand gerade wieder säubern, als ihm der Gedanke kam, wie doch selbst dieser Unrat von den Kleidern des Toten auf seine Weise eine Spur des nächtlichen Geschehens darstellte, welches den Ratsherrn ereilt hatte. Und da er mehr denn je den Wunsch verspürte, die Umstände dieses Todes zu verstehen, und diese Spur, wie er sich weiter sagte, eine solche war, die er endlich gar mitnehmen und in aller Ruhe zuhause betrachten konnte, so füllte er kurzerhand Proben des Schmutzes in zwei der vielen mit Stopfen verschließbaren Gläschen, wie sie in seinem Ranzen zu finden waren.
Gewiss, eine über Fragen der Medizin hinausgehende Untersuchung der Todesumstände gehörte nicht mehr zu seinen Aufgaben, doch er hatte das ungute Gefühl, dass sie am Ende niemandes Aufgabe sein würde, und der Gedanke verdross ihn.
Ulrich schätzte, dass er inzwischen eine knappe halbe Stunde mit der Untersuchung verbracht hatte: Es war nun Zeit aufzubrechen. Er löschte die bereits bedenklich flackernde Kerze auf dem zweiten Leuchter und trat einen Schritt zurück, seine Tasche aufzunehmen, doch ohne den Kerzenschein verschätzte er sich. Sein Fuß stieß mit einer unbedachten Bewegung die abgestellte Laterne um, und das letzte Licht in der Kammer erlosch. Er murmelte eine Verwünschung, kniete vorsichtig nieder und tastete mit der freien Hand über den Boden, bis er das warme Gehäuse aus Glas und Schmiedeeisen fühlte. Er dachte, wie doch das menschliche Auge allzu träge war für den plötzlichen Wechsel vom Licht zur Dunkelheit: Einige lange Augenblicke glaubte er noch den Widerschein des längst erloschenen Kerzenlichts zu sehen, ehe er das volle Ausmaß der Schwärze um sich herum wahrnahm. Er war eben im Begriff aufzustehen, als ihm zu Bewusstsein kam, dass etwas nicht stimmte. Die Finsternis hätte nun vollständig sein müssen, doch zu seinem Erstaunen war sie es nicht. Schemenhafte, fremdartig wirkende Konturen schälten sich aus dem Nichts. Unsicher blickte Ulrich zurück in Richtung der Tür. Ganz schwach zeichnete sich der Spalt zwischen ihrer Unterkante und dem Steinboden ab, doch der spärliche Widerschein des Gewölbes, der hindurch gelangte, reichte kaum einen Fuß weit in die Kammer und ringsum war nichts als lichtlose Schwärze. Der fahle Schimmer, den er wahrnahm, konnte nicht von dort herrühren, er verbreitete sich vielmehr direkt vor ihm, wie er nun feststellte. In einem kalten, grünlichen Schein erhoben sich schwache Formen aus der Dunkelheit und nahmen die Gestalt einer ausgestreckten Hand und schließlich eines ganzen Unterarms an.
Der Schrecken durchfuhr ihn so ruckartig, dass er sich nach hinten abstützen musste, wo seine Hand schmerzhaft in die noch immer heiße Laterne fasste. Längst verdrängte Schauergeschichten aus seiner Kindheit, in denen dämonische Gestalten aus einem nebelhaften Licht hervorlugten, stürmten auf ihn ein und verbreiteten eine Welle von Angst.
Er hätte rufen mögen, aber es war, als hielte die Erscheinung nicht nur seinen Blick sondern alle seine anderen Sinne gefangen. Er kauerte stumm und unbeweglich, wie in stiller Anbetung dieses Lichts, das so plötzlich und unerwartet aus der Finsternis gekrochen war.
Er zwang sich, ruhiger zu atmen und das Unwirkliche zu hinterfragen. Es gab keine Dämonen. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Das fahle Licht blieb.
Er schloss sie erneut, diesmal für einige Sekunden, doch augenblicklich kehrte der Lichtschimmer zurück, als seine Lider sich hoben.
Er stand vorsichtig auf, löste seinen Blick von der Hand des Toten und bewegte sich mit großer Vorsicht zwei Schritte zum Kopfende hin. Der Lichtschimmer reichte nicht bis dorthin. Er ging zurück, tat zwei Schritte auf das Fußende zu und hatte das gleiche Erlebnis.
Allein sich zu bewegen und zu beobachten hatte gut getan. Der Schauder über das Unbekannte war verflogen, und er folgte jetzt einfach seinem Begehren, mehr zu erfahren, und zu verstehen, was hier in der Kammer vor sich ging.
Das Licht schien wahrhaftig seinen Ursprung von der Hand des Toten zu nehmen. Er führte seine Rechte nahe an die des Leichnams heran und vermochte in dem grünlichen Schein seine eigenen Finger so gut zu erkennen wie die des Toten. Die Haut fühlte sich, dort wo es schimmerte, ebenso kalt an wie anderswo, das Licht verbreitete anscheinend keine Wärme. Er begann, einzelne Finger der Totenhand mit einem Tuch abzudecken, und beobachtete, wie sich der Eindruck veränderte. Schließlich fand er, dass Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger als eigentliche Quelle der Erscheinung anzusehen seien, oder wenigstens hatten diese Glieder den Hauptanteil daran.
Die Dunkelheit ringsumher und das unwirkliche Licht vor seinen Augen verbreiteten eine seltsam entrückte Stimmung, in die er einzusinken begann, während sein Verstand das gerade Erlebte zu begreifen suchte.
Jäh fiel ihm ein, dass seine Entdeckung so befremdlich war, dass niemand von außerhalb sie ihm glauben würde. Er brauchte ein zweites Augenpaar, das sie bezeugen konnte, und er wusste nur einen Zeugen, von dem er sich wünschte, er wäre hier, um zu schauen, was er geschaut hatte.
Er stand auf, bezwang sich, langsam tastend zu gehen, um nicht aufs Neue zu stolpern, erreichte den Ausgang und öffnete die Tür. Die beiden Soldaten kauerten nach wie vor am gleichen Ort, und auch der Stiefelberg zwischen ihnen schien kaum verändert. Ulrich bat einen der beiden, sich rasch zu Hauptmann van Horns Stube zu begeben, und Hermann Lengsdorp noch einmal zu ihm zu bitten. Er hoffte inständig, der Kaufmann möge noch nicht gegangen sein, und verwünschte die Zeit, die er, in Gedanken brütend, allein in der Kammer verbracht hatte, ohne an das Naheliegende zu denken. Der Mann tat wie geheißen, und Ulrich nutzte die Wartezeit, um mit Hilfe des anderen Soldaten die erloschene Kerze in der Handlaterne neu zu entzünden. Dann erblickte er eine wohlgekleidete, vertraut aussehende Gestalt, die auf sie zu kam: Es war Lengsdorp, der sich sofort aufgemacht hatte und unterwegs gar Ulrichs Boten enteilt war. Hesenius bat seinen Auftraggeber, ihn in die Kammer zu begleiten, schloss die Tür und führte ihn vor den Toten.
„Was ich Euch zu zeigen habe, bedarf der Dunkelheit“ erklärte er und löschte sodann ohne weitere Vorrede das Licht. Die Finsternis umfing sie beide und entzog Ulrich allen fragenden Blicken des anderen.
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