Orsi war der erste Fußballer, der zum Idol zweier Kontinente avancierte. Als er 1928 aus Argentinien nach Turin kam, galt er als stärkster Linksaußen der Welt. Mit der Albiceleste , der argentinischen Nationalmannschaft im schon damals weißhimmelblauen Trikot, war der Sohn italienischer Auswanderer zuvor bei den Olympischen Spielen in Amsterdam gefeiert worden, da hatten die Talentsucher Edoardo Agnellis ihn längst im Visier. Um Mumo ins Piemont zu holen, warf Agnelli sein ganzes Gewicht als Großindustrieller in die Waagschale. Seit 1926 galt die »Carta von Viareggio«, die den Transfer von Ausländern für Italiens Fußball verbot. Aber Orsi, so die Argumentation der Agnelli, sei ja gar kein Ausländer, sondern ein Oriundo , ein im Ausland aufgewachsenes Kind italienischer Eltern, also eigentlich ein Italiener, der ins Land der Väter heimkehre.
Der faschistische Verbandschef fand das einleuchtend, gab es doch in Südamerika zuhauf Talente mit italienischen Wurzeln, die dem Sport daheim auf die Beine helfen konnten. In Argentinien wimmelte es von italienischen Emigranten vor allem aus dem bitterarmen Venetien; São Paulo in Brasilien war quasi eine italienische Stadt. Die Argentinier ließen Orsi für die Rekordsumme von 100.000 Lire gehen, die höchste, die damals für einen Südamerikaner gezahlt wurde. Sicher auch ein »politischer« Preis, denn an diesem Ausnahmespieler manifestierte sich ein schon länger schwelender Konflikt zwischen Italienern und Südamerikanern. Bereits 1923 hatte Meister CFC Genua eine Tournee durch Brasilien, Uruguay und Argentinien absolviert, versehen mit dem Doppelsegen des Duce und des Papstes. Das technische Können und die Laufgeschwindigkeit der Südamerikaner beeindruckten die Italiener, und sie starteten Abwerbeversuche, hinter denen die argentinische Presse Mussolini persönlich vermutete: »Die faschistische Regierung will unsere Spieler an ihre Vereine binden, um vor aller Welt mit dem faschistischen Fußball zu prahlen!« Das war nur leicht übertrieben und zeigte deutlich den Konflikt zwischen alter und neuer Fußballwelt. In Italien blieb die Trophäe Mumo allerdings ein ganzes Jahr gesperrt, erst 1929 durfte er für Juventus auflaufen, um mit seiner technischen Klasse und Wendigkeit alle Erwartungen zu erfüllen. Für die Fans wurde der schmale Mann mit den schwarzen Mandelaugen »die Gazelle«.
Drei Monate nach seinem Einstand für den Klub trug Orsi schon das Trikot der Nationalmannschaft. Der Verband hatte Wind davon bekommen, dass der Vater des neuen Juve-Stars im Krieg mit dem Schiff in die alte Heimat gereist war, um gegen die Österreicher zu kämpfen. Gleich hieß es: »Wer gut genug ist, die Uniform anzulegen, um für Italien auf einem Schlachtfeld zu sterben, der kann erst recht unsere Flagge auf friedlichen Sportplätzen verteidigen.« Am 6. Dezember 1929 lief Orsi für die Squadra Azzurra im Stadion San Siro ein und schoss gegen Portugal innerhalb von zwei Minuten zwei Tore. Insgesamt brachte er es auf 35 Einsätze in der Nationalmannschaft mit 13 Treffern – darunter der Ausgleich im WM-Finale gegen die Tschechoslowakei. 1934 wurde der Oriundo Orsi mit Italien Weltmeister. Zwei Jahre später spielte er schon wieder für Argentinien. Da war Mumo , der Geiger, Hals über Kopf aus Italien geflohen. Das Regime hatte mit der Rekrutierung für seinen Abessinienfeldzug begonnen und die Oriundi kapierten sofort: Wer gut genug war, mit Italien Fußball-Weltmeister zu werden, war womöglich auch dazu ausersehen, auf dem Schlachtfeld für den Duce zu sterben. Das aber wollte Mumo Orsi für kein Geld der Welt.
8000 Lire monatlich hatte Patron Agnelli dem argentinischen Stürmer gezahlt, eine astronomische Summe verglichen mit den Gehältern eines Lehrers (400 Lire) und eines Richters (1000 Lire). Der Verein gewährte seinem Star zudem eine Dienstwohnung und einen Dienstwagen – natürlich einen Fiat, Modell 509. Als Orsi einmal in Palermo von einem hartnäckigen Gegenspieler genug hatte, fragt er ihn genervt, wie viel er verdiene. 600 Lire, lautet die Antwort. Und Orsi: »Die gebe ich dir und dann zieh Leine. Fußball spielen kannst du sowieso nicht.« So viel Arroganz konnte er sich leisten. Juventus machte Raimundo Orsi groß und Mumo ließ die Juve strahlen. So groß war sein Einfluss, dass er 1931 auch seinen Landsmann Luisito Monti holen ließ, den argentinischen Vizeweltmeister von 1930. Somit spielte bei Juventus ein Trio aus argentinischen Oriundi : Orsi, Monti und Cesarini.
Rein körperlich war Monti das Gegenteil der beiden anderen. Er hatte breite Schultern, ein starkes Kreuz und, als er in Turin eintraf, deutliches Übergewicht. In Buenos Aires hatte er bereits die aktive Zeit beendet und sein Einkommen mit einer Pasta-Manufaktur aufgebessert. Neben seinen neuen Teamkollegen in Turin wirkte der 92-Kilo-Mann, als hätte man Bud Spencer ins hintere Mittelfeld gestellt. El Verdugo hatten sie ihn wegen seiner beinharten Spielweise in Argentinien genannt, den Henker. Diesem Spitznamen machte Monti auch bei Juventus weiterhin alle Ehre, der Pasta-Bauch indes verschwand. Mit einem selbstverachtenden Abmagerungsprogramm und hartem Training nahm er innerhalb kürzester Zeit 12 Kilo ab. Das reichte für die Berufung in die Squadra Azzurra , und so wurde Monti, der das Endspiel 1930 noch mit Argentinien gegen Uruguay verloren hatte, der bis heute einzige Spieler, der für zwei verschiedene Nationalteams in einem WM-Finale stand. Als Orsi und Cesarini längst über alle Berge waren, blieb er in Italien.
Die Fußballstars der Juve hätten nicht glänzen können ohne einen genialen Coach. Der Mann, dem Luisito Monti seinen zweiten Frühling verdankte und Juventus vier der fünf SerienTitel, hieß Carlo Carcano und hatte sich schon als Spieler durch seine taktische Begabung hervorgetan. Als erster Fußballer der Unione Sportiva Alessandria wurde er in die Squadra Azzurra berufen, die er 1928/29 auch kurzfristig trainierte, bevor er im Jahr darauf bei Juventus anheuerte. Carcano gilt als einer der Erfinder des Metodo , eines zwischen den Kriegen in Italien verbreiteten 2-3-2-2-1-Taktiksystems, das vor allem auf einer robusten Abwehr und schnellen Kontern beruhte. Bei der italienischen Methode handelte es sich um pragmatisch-opportunistischen Überfallfußball ohne große Schnörkel – seine Vollendung wurde später als Catenaccio weithin berüchtigt.
Carcano hielt auf eiserne Disziplin, galt aber auch als einfühlsamer Psychologe, zu einer Zeit, da dieser Begriff im Fußball noch gar nichts zu suchen hatte. Der Juve-Trainer motivierte und förderte junge Talente, unterstützte den auf Abwege geratenen Monti bei seinem Kampf um die zweite Chance, duldete die Allüren seiner Stars. 1934, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, musste er dennoch gehen. Der vierfache Juve-Meistertrainer Carcano hatte als Assistenztrainer von Vittorio Pozzo die Azzurri gerade zum Weltmeistertitel geführt, als Gerüchte über seine Homosexualität laut wurden. Der Trainer habe unerlaubte Beziehungen zu einigen Spielern unterhalten. Ja, er sei von seiner Talentsuche in Südamerika sogar mit einem jungen Geliebten heimgekehrt. Wer die Intrige anstiftete, ist nicht bekannt. Die glühenden Faschisten in der Nationalelf? Das waren namentlich die Parteimitglieder Eraldo Monzeglio (Bologna) und Attilio Ferraris (Lazio). Oder andere Spitzel des Regimes, die den Agnelli zeigen wollten, wer Herr im Haus war? Bei Juve gab es keine Spieler, die sich als Faschisten hervortaten. Anders als der FC Bologna und die beiden Hauptstadtvereine Roma und Lazio gehörte der Klub der Turiner Industriellen auch nicht zu den Favoriten des Duce. Kein Wunder, trug doch die Juventus als einziger Großverein keine faschistischen Abzeichen auf den Trikots. Und dass, obwohl sie als Nazio-Juve das Rückgrat des Weltmeisterteams von 1934 bildete. Damit nicht genug, leistete sie sich einen hartnäckigen Antifaschisten als Generaldirektor.
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