STAATENLOS
ROMAN
AUS DEM FRANZÖSISCHEN
ÜBERSETZT
VON LENA MÜLLER
Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Apatride bei Editions de l’Olivier, Paris 2017
Die Übersetzung aus dem Französischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt
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Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut Français |
Zitate fremdsprachiger Autoren wurden folgenden deutschsprachigen Ausgaben entnommen:
Nâzim Hikmet, »Wie Kerem« (1934), in: Hava kursun gibi agir / Die Luft ist schwer wie Blei. Gedichte . Aus dem Türkischen von Helga Dağyeli-Bohne und Yıldırım Dağyeli, Dağyeli Verlag 1988.
Guillaume Apollinaire, »Rheinische Nacht« (1913), in: Alkohol. Gedichte französisch-deutsch . Aus dem Französischen von Johannes Hübner und Lothar Klünner, Luchterhand 1976.
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Edition Nautilus GmbH · Schützenstraße 49 aD - 22761 Hamburg · www.edition-nautilus.deAlle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus GmbH 2017 Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg Deutsche Erstausgabe September 2017 ePub ISBN 978-3-96054-048-9 |
Lehmschauer
Der Kreis der Auserwählten
Das Hauptquartier
Am Fuß des Hügels
Ihr Lehmkörper
Wodka-Litschi
Die Lichtbarke
Die Goldenen Zwanziger
Das Feld der Leuchtkäfer
Die Zone
Eine Nadel im Heuhaufen
Ein Ufo in der Nacht
Schmutzige, stumpfe Erde
Frohe Weihnachten
Schwarz und langsam wie eine Raupe
Standarten und Fahnen
Sterne in allen Farben
Die milchige Morgendämmerung
Das Luftschloss
Das Sandbett
Vom Winde verweht
Blau wie eine Orange
Die Spitze des Eisbergs
Schlangen und Leitern
Aus dem Bauch des Blauwals
Der Grabstein
Bienen im Kopf
Mutter in Bedrängnis
Fight Club
Größenwahn
Wenn wir nicht brennen Wie kann die Finsternis erleuchtet werden?
Nâzim Hikmet
Sie kam an einem Morgen zu Frühlingsbeginn hier an. Die Bäume waren noch kahl. Bis auf die Trauerweiden. Das Wasser, das gemächlich unter dem Gitter der Rinnsteine plätscherte, erinnerte sie an japanische Gärten. Sie folgte der menschenleeren, schnurgeraden Straße, die dann nach links abbog und die vom Morgentau feuchten Getreidefelder in zwei Teile schnitt. Verschlafene Häuschen tauchten auf. In weiter Ferne sah sie das weiße Schild, auf dem der Name der Stadt stehen musste. Sie beschloss, bis dorthin zu gehen. Und so lief sie trotz der Müdigkeit noch lange weiter, obwohl das Laufen doch schwerfällt, ohne Beine, ohne Füße, ohne irgendetwas unterhalb der Brust.
Einige Stunden zuvor war sie erwacht. Die Dunkelheit war wie Staub in ihre Augen gedrungen. Im Liegen hatte sie die Arme nach oben gestreckt und war gegen eine Decke gestoßen. Sie hatte die Fingernägel hineingebohrt, und Erde war auf sie heruntergerieselt. Da hatte sie sich an eine Schaufel erinnert, an mehrere Schaufeln, an eine im Gras liegen gebliebene Taschenlampe, an die weiße Zunge ihres Lichtscheins, an das dumpfe, regelmäßige Geräusch der Lehmschauer auf ihrem Körper, ein Brennen in der Lunge, die sich verzweifelt weitete, um ein wenig Sauerstoff einzuatmen. Sie hatte aufstehen wollen, ihre Beine ausstrecken, den Lehmhaufen vor ihr mit den Zehen berühren. Aber das vor ihr war eine formlose, körperlose Nacht, eine leere, trockene, freie Nacht. Sie hatte die Hände über ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Schultern, ihre Brust wandern lassen. Sie hatte ihren Bauch gesucht, aber sie hatte keinen mehr, auch keine Beine, kein Geschlecht mehr, unterhalb der Brust ein Haufen Asche, trocken, schwarz, der sich bald in alle Winde zerstreuen würde. In Panik hatte sie sich ruckartig aufgesetzt und war heftig gegen die Erddecke gestoßen.
Da hatte sie die Stöcke wieder vor sich gesehen, um deren Enden nach Kerosin, nach Feuer stinkende Lappen gewickelt waren, hatte ihre Hitze gespürt, den Atem der Flammen gehört. Sie hatten sie vergewaltigt, erwürgt, hatten ihren Körper angezündet, sie hatten sie von den Füßen bis zur Brust verbrannt, um die Frau in ihr auszulöschen, die gelebt und geliebt hatte. Sie hatten den Körper in ihrem Körper verbrannt und begraben, das winzige Leben, das im schwarzen Wasser ihres Bauchs schwebte.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie, gelähmt vor Angst, dagelegen hatte, sie wollte den Tag abwarten. Und um ans Ende der Nacht zu gelangen, musste sie das Grab hinter sich lassen. Sie hatte begonnen, die Decke aus Erde über ihrem Kopf abzutragen. Sie hatte beschlossen aufzustehen, zu gehen, die Straße zu überqueren und die Stadt zu erreichen.
Mitten in der Nacht schreckte Marie hoch. Sie hatte den Eindruck, dass jemand im Zimmer war, schwer atmend, in der Dunkelheit zusammengekauert. Sie hätte reflexhaft die Nachttischlampe anschalten sollen, aber sie rührte sich nicht, sie hatte Angst, aber eine furchtbare Traurigkeit half ihr über den Schrecken hinweg, sie stützte sich auf die Ellenbogen, wartete geduldig, als ob es so hatte kommen müssen, dass man sie besuchen kam, dass man die Erde und das Grab aufwühlt und aufsteht, geht, die Meere überquert, die Ozeane und Kontinente, und zu ihr kommt.
Marie flüsterte: »Verzeih mir! Ich sollte mich nicht vor dir fürchten, Mina! Ich bin froh, dass du da bist!«
Der Kreis der Auserwählten
In der Metro war zwischen zwei Frauen plötzlich ein heftiger Streit entbrannt. Eine hatte goldbraune Haut, dunkle Locken, die ihr fleischiges Gesicht umrahmten, einen Pony, der ihre großen, haselnussbraunen Augen verdeckte. Die andere war schwarz, trug strohblondes Kunsthaar, das sich über ihren Rücken wellte, lange, blaue und orangefarbene, mit Strass besetzte Nägel. Die erste hatte den Arm in einer Schlinge, die Hand eingegipst. Bei einem abrupten Bremsmanöver der Bahn war die zweite an den verletzten Arm gestoßen, und sofort waren sie lauthals übereinander hergefallen. Immer heftiger zeterten und schimpften sie, beleidigten und drohten einander, bis ihr verbaler Zusammenstoß eine andere Wendung nahm. Jede rühmte sich, rechtmäßige Staatsbürgerin dieses Landes zu sein, sich rechtmäßiger als die andere auf französischem Boden aufzuhalten, auf der sozialen Leiter weiter oben zu stehen, und war der grimmigen Überzeugung, die mutmaßlich Unterlegene mit gutem Recht niedertrampeln zu dürfen. Die eine kletterte auf eine Sitzbank, brüllte sich die Stimme heiser. Sofort stieg auch die andere auf einen Sitz. Sie begannen, sich zu schlagen. In diesem Augenblick gingen ein paar Fahrgäste dazwischen. Beim nächsten Halt stieg die erste aus, die zweite schlug gegen die Scheibe und zeigte ihr den Mittelfinger, während die Metro im Tunnel verschwand.
Während des Zwischenfalls hatte Esha den Kopf gesenkt gehalten. Dann war ihr Blick dem des jungen Mädchens begegnet, das ihr starr vor Angst gegenübersaß, das Gesicht so blass wie die Augen. Wortlos hatte sie sie beruhigt und dabei ihre Tasche an sich gepresst, ihr ganzes Leben war da, in diesem Packen Dokumente. Woher kam diese hysterische Energie, als ob man wie ein Hund ständig sein Territorium markieren müsste? Niemand wusste, wann dieses schreckliche pyramidale System zwischen den Menschen und ihren früheren Herren entstanden war, zwischen den ehemaligen Dienern, die nördlich und südlich der Wüste aufgebrochen waren, den Reisenden vom blauen Fluss und vom weißen Fluss, jenen von den Inseln, vom Vulkanarchipel und den Exilanten des ehemaligen roten Regimes, die nach weißen, nach einfachen und freien Tagen suchten.
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