4. Ein weiterer Funktionszusammenhang digitaler Technologien umfasst schließlich die Funktion der Virtualisierung von Arbeit. Damit eröffnen sich weite Möglichkeiten für eine Optimierung von Produktions- und Arbeitsprozessen sowie eine verbesserte Informatisierung der Arbeit. Hierbei handelt es sich beispielsweise um vernetzte Engineering-, Simulations- und Planungssysteme sowie avancierte Prozessüberwachungssysteme, die eine Vielzahl an Parametern aufbereiten können sowie auf den unterschiedlichsten organisatorischen Ebenen der Wertschöpfung eingesetzt und von verschiedensten Beschäftigtengruppen genutzt werden können. Informationstechnische Voraussetzung hierfür sind die industrielle Nutzung des Internets, die Nutzung sog. Digitaler Zwillinge, die reale Prozesse virtuell repräsentieren, Big-Data-Methoden und der Einsatz sog. Cyber-Physischer-Systeme, die die virtuelle mit der realen Welt verknüpfen. Konkretes Beispiel hierfür sind sog Virtual-Reality-Systeme, die etwa in Gestalt von Motion-Tracking-Systemen in Logistikprozessen Transportabläufe und deren Elemente – Waren, Maschinen und Menschen – simulieren, virtuell testen und ihre reale Nutzung durch optimale Vorgaben steuern können (vgl. FhG IML 2019). Durch die damit mögliche systematische und vernetzte Verarbeitung von Daten und Informationen über Produktions- und Arbeitsprozesse sowie Beziehungen zu Kunden und Absatzmärkten werden zunehmend Regelungsfunktionen von Wertschöpfungsprozessen technologisch erbracht, die zuvor auf organisatorischem Wege erbracht worden sind. Insofern kann von digitalen Technologien auch als Organisationstechnologie gesprochen werden. Wie im Folgenden noch genauer gezeigt werden soll (
Kap. 2.3), wird mit dieser Kategorie der zentrale Funktionszusammenhang digitaler Technologien und von Industrie 4.0 bezeichnet. Im Hinblick auf Arbeit lässt sich daher festhalten: Insofern es hierbei um die Regulation betrieblicher und überbetrieblicher Gesamtprozesse der Wertschöpfung geht (und weniger um Teil- und einzelne Arbeitsprozesse), eröffnen sich in dieser Perspektive sehr divergierende und weite Gestaltungsoptionen für Arbeit.
Ohne Frage handelt es sich bei den vier genannten Funktionszusammenhängen um eine analytische Unterscheidung von Dimensionen (
Abb. 2.1), die sich empirisch oftmals nur schwer trennen lassen. Denn viele der digitalen Technologien vereinen mehrere Funktionalitäten in sich. So wird mit Organisationstechnologie im Grunde nicht nur die Funktion der Virtualisierung, sondern auch die der Vernetzung bezeichnet. Im Hinblick auf das sich jeweils einspielende Verhältnis von Technik und Arbeit verbindet sich damit jedoch die Konsequenz, dass sich je nach Funktionszusammenhang sehr unterschiedliche Relationen und Gestaltungskorridore für Arbeit ergeben.
Abb. 2.1: Multifunktionalität digitaler Technologien
2.3 Organisationstechnologie
Die Kategorie der Organisationstechnologie geht auf eine von Willi Pöhler geäußerte Überlegung zurück, wonach die neuen Technologien auf eine rationelle Verzahnung von Produktionstechnik und Arbeitsorganisation zielen und Teilprozesse nach einem vorgegebenen Schema organisieren (zit. n. Brandt et al. 1978, S. 20). Ähnlich argumentiert Gert Schmidt (1989, S. 247), der von Informationstechnologie als einem »Organisationsphänomen« spricht, in dem die Apparatur mit organisatorischen Regelungskomplexen verschmelze. Daher gelte es, »nicht mehr nur dem Einfluss der Technologie auf die Arbeitsorganisation, sondern vor allem umgekehrt den Auswirkungen ökonomisch bedingter Organisationsprinzipien auf den technischen Wandel nachzugehen.« (Brandt et al. 1978, S. 20 f.)
Organisationstechnologie umfasst demnach Planungs-, Steuerungs- und Kontrollverfahren, die früher organisatorisch erbracht worden sind, setzt sie in Daten und Informationen über einen anzustrebenden Produktionsablauf um und steuert auf diese Weise nicht mehr allein Arbeit, sondern den Produktionsprozess in seiner Gesamtheit mit seinen technischen, sozialen und organisatorischen Elementen in der betrieblichen wie auch überbetrieblichen Dimension. Die Spezifika dieser Kategorie verdeutlichen Brandt et al. mit der Formulierung: »Organisierung heißt (…) nicht nur Veränderung des materiellen Produktionsgefüges, sondern zugleich Entwicklung eines betrieblichen Informationsprozesses, über den die Steuerungsfunktionen, die aus der unmittelbaren Sphäre der einzelnen Teilarbeiten herausgenommen worden sind, zentral koordiniert und gelenkt werden können.« Daher »ist der Informationsprozeß (…) ein die materielle Produktion organisierender Prozeß und die damit verbundene Informationstechnologie eine Organisationstechnologie der materiellen Produktion.« (ebd., S. 64 ff.)
In leicht modifizierter Weise lassen sich daher die damaligen Bestimmungen von Organisationstechnologie auch für die aktuelle Debatte und die Funktionen von digitalen Technologien übernehmen:
• Organisationstechnologie ist nicht nur auf Teilprozesse zugeschnitten, sondern bezieht sich auf einen organisatorischen Gesamtzusammenhang der Produktion;
• ihre Funktion besteht darin, Produktionsmittel und Arbeitskräfte zu steuern und nicht die Produktion direkt auszuführen; und
• sie schafft keine Produktionskapazitäten, sondern nutzt vorhandene Kapazitäten aus und optimiert diese nach vorgegebenen Kriterien.
Die besondere ökonomische Bedeutung der solchermaßen verstandenen Organisationstechnologie lässt sich dabei vornehmlich auf mehrere Rationalisierungsziele zurückführen: die Synchronisation von Teilarbeiten und die Integration des Produktionsprozesses zu einem Kontinuum, die Eliminierung unproduktiver Zeiten und die massive Beschleunigung der Prozesse sowie ihre gleichzeitige Standardisierung und Flexibilisierung (vgl. Benz-Overhage et al. 1982, S. 40). Im Verlauf der industriesoziologischen Debatte wurden Ende der 1980er Jahre ähnliche Überlegungen von Norbert Altmann, Dieter Sauer et al. mit der Kategorie der »Systemischen Rationalisierung« gefasst (vgl. Altmann et al. 1986).
Fragt man nach den Gründen für die hohe Bedeutung der organisationstechnologischen Funktion digitaler Technologien, so ist man – dem erwähnten Frankfurter Ansatz folgend – auf den Einfluss struktureller Rahmenbedingungen verwiesen. Die These lautet, dass Organisationstechnologie als vermittelnder »Link« zwischen dynamischen, im Einzelnen durchaus widersprüchlichen ökonomischen Strukturanforderungen der Märkte einerseits und andererseits der Produktion und der daran orientierten Regulation von Wertschöpfungs- und Arbeitsprozessen fungiert. 10 Insbesondere sind dabei die dynamischen und für die allermeisten Unternehmen nicht übergehbaren marktökonomischen Erfordernisse in den Blick zu nehmen. Der Druck auf Produktdiversifikation, auf Flexibilisierung und Verkürzung von Innovation und Produktion, eine verstärkte Kundenorientierung sowie die Erweiterung von Marketing- und Servicestrategien führen in vielen Fällen tendenziell zu einer bislang nicht gekannten Dominanz marktökonomischer Erfordernisse gegenüber produktionsökonomischen Kriterien wie Standardisierung und purer Effizienzsteigerung. So stellten Benz-Overhage et al. (1982, S. 35) schon Anfang der 1980er Jahre fest, dass in vielen Bereichen der industriellen Produktion eine Schwerpunktverschiebung von Rationalisierungsstrategien erkennbar werde: Produktionsgestaltung ziele nicht mehr – wie unter den Systembedingungen der fordistischen Massenproduktion – primär auf die Abschottung betriebsinterner Strukturen von Märkten und eine Optimierung der Skalenökonomie, vielmehr werde die optimale Reagibilität der Prozesse gegenüber den Marktvarianzen zum dominierenden Prinzip der Produktionsgestaltung.
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