Diese Bestimmungen lassen sich unmittelbar mit der Vision Industrie 4.0 verknüpfen. So wird mit Industrie 4.0 insbesondere auf die Bewältigung schnell wachsender Flexibilitätsanforderungen der Absatzmärkte, eine zunehmende Individualisierung der Produkte, kürzer werdende Produktlebenszyklen sowie eine steigende Komplexität der Prozessabläufe und Produkte abgestellt. Die bisherigen technologischen und wirtschaftlichen Grenzen des Einsatzes von Produktionstechnologien sollen angesichts steigender Flexibilitätsanforderungen der Absatz- und Zuliefermärkte deutlich hinausgeschoben werden. Acatech folgend ist das Ziel des Konzepts Industrie 4.0 eine Individualisierung von Produkten: »Industrie 4.0 ermöglicht die Berücksichtigung von individuellen kundenspezifischen Kriterien bei Design, Konfiguration, Bestellung, Planung, Produktion und Betrieb einschließlich kurzfristiger Änderungswünsche. Dank Industrie 4.0 kann dabei selbst die Produktion von Einzelstücken und Kleinstmengen (Losgröße 1) rentabel werden.« (Forschungsunion/acatech 2013, S. 19) Zudem soll es möglich werden, Geschäftsprozesse und Lieferketten im Hinblick auf Qualität, Zeit, Risiko, Robustheit, Preis, Umweltverträglichkeit etc. dynamisch zu gestalten. Dieser Perspektive zufolge werden sich daher herkömmliche Wertschöpfungsketten in Richtung verstärkter Markt- und Serviceorientierung verändern und neue Geschäftsmodelle etablieren. Grundsätzlich wird erwartet, dass Betriebe damit eine neue Qualität der flexiblen technisch-organisatorischen Prozessgestaltung erreichen, die den dynamisch sich wandelnden Marktbedingungen Rechnung trägt.
Obgleich man annehmen darf, dass die zunehmende Dominanz marktökonomischer Anforderungen einen generellen Trend bezeichnet, ist davon auszugehen, dass dieser sich empirisch-konkret in verschiedenen Industrien in sehr unterschiedlicher Weise ausprägt. Intervenierende Faktoren sind hier unterschiedliche markt- und betriebsstrukturelle Bedingungen, wie sie sich etwa in Merkmalen wie Kundenbezug und Absatzstrategien, Seriengröße und Produktstrukturen, aber auch unterschiedlicher Technologieintensität und Betriebsgröße darstellen. Entsprechend ungleichzeitig und verschieden sind auch die je konkrete Nutzung und die Funktionsweisen digitaler Technologien als Organisationstechnologie. Es liegt auf der Hand, dass sich für Arbeit damit sehr divergierende Gestaltungsoptionen und Trends verbinden.
2.4 Kontingentes Verhältnis von Technik und Arbeit
Zu diskutieren ist abschließend, welche Konsequenzen sich aus den skizzierten Besonderheiten und Perspektiven digitaler Technologien für die – arbeitssoziologisch alte und nun wieder aktuelle – Frage nach dem Verhältnis von Technik und Arbeit ergeben und inwieweit die früheren Argumente für eine Abkehr vom Technikdeterminismus präzisiert werden müssen. Fraglos haben die früheren kritischen Einwände gegen eine lineare und eindimensionale Sicht der Determinierung von Arbeit durch technologische Bedingungen bis heute ihre Triftigkeit nicht eingebüßt, ja sie gewinnen unter den Bedingungen smarter digitaler Technologien eine neue Aktualität. Die Entwicklung von Arbeit unterliegt, um ein Argument von Joachim Bergmann (1989, S. 42 f.) aufzugreifen, einer »mehrfachen Kontingenz«, die in den oben skizzierten Zusammenhängen begründet ist:
• Zum ersten ist die Kontingenz der Entwicklung von Arbeit Resultat der gerade auch durch digitale Technologien vorangetriebenenschnellen Automatisierung von Arbeitsprozessen. Wie gezeigt wird zwar durch Automatisierung Arbeit zunehmend substituiert, verbleibende, nicht-automatisierte Tätigkeitselemente werden infolge der steigenden »Eigenfähigkeit« der technischen Anlagen jedoch zeitlich und funktional zunehmend von den technischen Abläufen entkoppelt. Damit eröffnen sich weite und vielfach neue Gestaltungsoptionen für Arbeit.
• Zum zweiten sind auch aufgrund der Multifunktionalität der digitalen Technologien kaum eindeutige und generelle Aussagen über die Konsequenzen digitaler Tehnologien für Arbeit möglich. Denn es ergeben sich je nach Funktionszusammenhang sehr unterschiedliche Relationen zwischen Technik und Arbeit und damit Gestaltungskorridore für Arbeit.
• Zum dritten ist Kontingenz das Ergebnis der organisationstechnologischen Bewältigung dynamischer marktökonomischer Anforderungen. Denn die damit digital ermöglichte Regulation der Produktion richtet sich, wie gezeigt, primär auf die betriebliche und überbetriebliche Wertschöpfung und weniger auf einzelne Teilprozesse und Teilarbeiten. Für Arbeitsorganisation und Arbeit wird damit einmal mehr ein Rahmen abgesteckt, ohne sie im Einzelnen festzulegen.
• Zum vierten impliziert die Autonomisierung der digitalen Systeme den postulierten Wandel vor allem des Gesamtsystems der Produktion und die hier wirksamen hybriden Interdependenzen. Daher spielt sich hierbei der Zusammenhang zwischen Technik und Arbeit im Kontext von dynamischen Abstimmungsprozessen zwischen den verschiedenen technischen und nicht-technischen Elementen des Gesamtsystems ein, und eindeutige Schlussfolgerungen im Hinblick auf den Wandel von Arbeit sind auch in dieser Perspektive kaum möglich.
Insgesamt lässt sich daher festhalten: Die marktökonomisch induzierten und tendenziell durch autonome Planungs- und Steuerungssysteme organisationstechnologisch vermittelten relevanten sozio-technischen Veränderungen vollziehen sich primär auf der Ebene betrieblicher und überbetrieblicher Wertschöpfungsprozesse in ihrer Gesamtheit. Die arbeitsorganisatorischen Konsequenzen sind prinzipiell »unbestimmt«. 11
Empirisch greifbar wird dies am Beispiel vielfach genutzter digitaler Planungs- und Steuerungstechniken – etwa von Managementinformationssystemen, sog. ERP-Systemen (Enterprise Resource Planning) oder Shopfloor-Managementsystemen –, die ein Netz von übergreifenden Rahmendaten wie Prozess- und Objektdaten hoher Planungsgüte erzeugen und die sich weniger auf die Festlegung einzelner Arbeitsschritte richten. An den Rahmendaten haben sich Arbeitskräfte zu orientieren, und ihre Einhaltung sollen sie aktiv gewährleisten, indem sie diese in zeitlich und funktional »richtiges« Arbeitshandeln und in konkrete inhaltlich-stoffliche Tätigkeiten übersetzen (vgl. Manske et al. 1994, S. 179 f.). Wie diese Übersetzungsleistungen im Konkreten arbeitsorganisatorisch strukturiert sind, ist freilich ex ante keineswegs bestimmt. Im Einzelnen können sehr verschiedenen Formen von Arbeitsteilung und Kooperation organisationstechnologisch integriert werden; solche mit engen »tayloristischen« Zuschnitten von Arbeitsaufgaben und solche mit »ganzheitlichen« Tätigkeitszuschnitten können realisiert werden (vgl. Bergmann 1989, S. 42). Mehr noch, die neuen Technologien schaffen vielfach Voraussetzungen für neue Aufgaben und Tätigkeiten, die es zuvor noch nicht gab (vgl. WEF 2018, S. 11). Als Beispiele hierfür können Steuerungsaufgaben für neue Logistiksysteme wie Drohnen oder systembezogene Überwachungsaufgaben bei autonomen Systemen genannt werden.
Wie im nächsten Kapitel noch genauer auszuführen ist, werden in der Debatte über die digitale Transformation von Arbeit daher nicht zufällig teilweise völlig unterschiedliche Entwicklungsszenarien von Arbeit postuliert, und es wird betont, dass sie einander nicht ausschließen und sich nebeneinander und ungleichzeitig durchsetzen können.
8Der Einfluss makrostruktureller Faktoren ist durch die international vergleichende Forschung überzeugend belegt. Wegweisende Studien zeigten schon in den 1970er und 80er Jahren, dass sich bei identischen mikroelektronischen Technologien in verschiedenen Ländern sehr unterschiedliche Formen der Arbeitsorganisation fanden. Ein Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich findet sich bei Lutz (1976), ein Vergleich zwischen Deutschland und Großbritannien bei Sorge et al. (1982).
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