»Sie kennen die Verordnung«, erwiderte der Mörder schlicht. »Die anderen suchen gerade das Anwesen ab. Niemand darf zurückgelassen werden.«
»Dann dürften sie enttäuscht sein«, gab Cartwright zurück, »denn außer mir ist niemand hier.«
»Doch, ein Junge. Fünf Jahre alt.« Der Mörder äußerte dies so dermaßen gleichgültig und empfindungslos, dass der Senator genau wusste, dass sie ihre Mission absolut unparteiisch und pflichtbewusst ausführen und alle töten würden, die zu exekutieren sie beauftragt worden waren, sogar ein unschuldiges Kind.
»Mein Enkelsohn ist aber nicht hier«, behauptete Cartwright hastig.
Noch ein Blitz. In der vorübergehenden Helligkeit konnte er einen weiteren Blick auf das Gesicht des Mannes erhaschen, in dem sich nichts als Gleichgültigkeit lesen ließ. Er sah jung aus mit seinen ebenmäßigen Zügen und der straffen Haut, die sich über seine spitzen Wangenknochen und eine sogar noch markantere Kieferpartie zu spannen schien. Er war bestimmt zwei Meter groß, und seine Figur wies ihn als Gewichtheber aus, der viele Stunden Training dafür aufgebracht hatte, seine Arme, Brust und Schultern zu stählen. Außerdem galt er unter einer Reihe von Killern als Wunderkind und war der Jüngste in seiner Gruppe.
»Bitte«, flüsterte Cartwright nun. »Ich habe dich erschaffen. Ich habe dein ganzes Team erschaffen. Ohne mich wäre die Force Elite gar nichts.«
Im Dunkeln hörte er, wie der Mann langsam ein Kampfmesser aus der Scheide zog.
»Sie haben sich leider zu weit aus dem Fenster gelehnt, Senator.«
»Ich habe ein Monster geschaffen, und jetzt bringt es mich um!«
»Ich führe lediglich die Befehle eines Ranghöheren aus. Das wissen Sie … und Sie kennen auch den Grund dafür.«
Cartwright wich zurück, und streckte seine Hände flehentlich nach vorn aus. »Bitte tut meinem Enkelsohn nichts«, bat er mit ernster Stimme. »Ich verlange nichts weiter von euch, als ihn zu verschonen.«
»Würde ich dies tun, wäre es eine Pflichtunterlassung.«
»Er ist doch gerade mal fünf Jahre alt, verdammt!«
»Und außerdem eine Bedrohung, die es auszumerzen gilt.«
Erneut flammte ein Blitz auf. In einer seiner Hände hielt der Mörder ein KA-BAR-Messer dessen Klinge auf der einen Seite glatt und auf der anderen gezackt war.
»Ich habe dich einst entdeckt. Ich habe dich zu dem gemacht, was du heute bist«, sagte der Senator. »Willst du wirklich denjenigen umbringen, der dich zum Kopf der Acht ernannt hat, zum Anführer der Force Elite?«
Der Einbrecher entgegnete darauf nichts. Er rückte lediglich mit hochgehaltener Waffe näher, bereit zum Zustechen, Aufschlitzen und zum Töten. Dann sagte er: »Der Höflichkeit halber, Senator, werden Sie nicht zu leiden brauchen.« Mit diesen Worten fuhr er Cartwright waagerecht über die Kehle. Der tiefe Schnitt, der nun aufklaffte, erinnerte an ein abscheuliches Grinsen, und das herausfließende Blut leuchtete bei jedem weiteren Blitz auffallend rot, während sich das Opfer mit einer seiner unförmigen Hände, deren Finger wie Krallen gekrümmt waren, an den Hals fasste. Mit dem anderen Arm ruderte er wild, um sich an der Schreibtischkante festhalten zu können, als sich alles um ihn herum drehte, immer schneller, wie ein Strudel sich verdichtender Schatten, aus deren Tiefe sich eine noch schwärzere Finsternis anbahnte.
Genau in dem Moment als er die Kante zu fassen bekam, fiel der Senator auf die Knie und fuhr hektisch mit der blutüberströmten Hand an der Abdeckung des Geheimfachs entlang. Es war seine letzte Handlung vor dem Tod, und der rote Streifen auf dem Holz war der endgültige Schlussstrich unter seiner Zeit als berufener Politiker.
Noch während Cartwright am Boden verblutete, begann der Killer, das Arbeitszimmer zu durchsuchen.
Irgendwo mussten schließlich die Lebensläufe sein.
Der Junge hatte sich währenddessen in einem Schrank unter den Buchregalen versteckt und den Wortwechsel von dort aus mitverfolgt, und auch das Flehen seines Großvaters um sein Leben gehört. Dann war ein grässliches Geräusch gefolgt … schmatzend oder verschleimt … das Röcheln eines Mannes bei dem Versuch, trotz einer riesigen Halswunde weiter zu atmen.
Bald darauf bekam das Kind in der anschließenden Stille Angst, und seine Ungewissheit bezüglich dessen, was vor der Schranktür geschehen war, nötigte ihn trotz des Verbots, leise nach seinem Großvater zu rufen.
Jetzt erfolgten Schritte: vorsichtig und leise, wie schwerelos auf dem Teppichboden. Jemand kam auf die Regale und auf den Schrank zu.
War es sein Großpapa?
Ringsherum wurden nun Türen geöffnet und wieder geschlossen, weshalb der Knabe seine Beine anwinkelte und die Knie vor seine Brust zog. Er verschränkte seine Arme davor, als wenn er sich besonders kleinmachen wollte. Dies tat er jedoch vergeblich, da nun auch sein Schrank geöffnet wurde.
Er schaute jetzt über seinen Kniescheiben hinweg. Seine Wangen waren nass vom Weinen, und seine schmächtige Brust bebte heftig, weil er stumm vor sich hin schluchzte.
Der Killer sah ihn einen Moment lang nachdenklich an, wobei sich die Blicke der beiden begegneten.
Im weißen Licht eines erneuten Blitzes bemerkte der Junge, dass sein Großvater mit halb geschlossenen Lidern neben dem Schreibtisch saß. Die Vorderseite seines Hemdes glänzte rot wie ein kandierter Apfel. Als der Mörder in dieselbe Richtung schaute, fiel ihm auf, wie der Kleine den Senator fokussierte. Dann drehte er sich wieder zu dem Kind um.
Während der Mörder erneut in den Schrank schaute und Mark seinen Blick erwiderte, tanzten weitere Blitze wie Schwerter in einem Kampf und leuchteten den Raum noch länger als zuvor aus. Der Mann hielt noch immer sein Messer in der Hand, und der Junge richtete seine Aufmerksamkeit unentwegt darauf. Dann begriff er plötzlich den Zusammenhang … die Waffe und ihr Besitzer … das blutbesudelte Hemd seines Großvaters.
Schließlich schüttelte er panisch den Kopf. Nein-nein-nein-nein-nein.
Der Mörder streckte nun eine Hand in den Schrank hinein, legte sie beschwichtigend auf den Kopf des Kindes und ließ sie dann hinunterrutschen, sodass sie seine Wange streifte. Ohne ein Wort zu sagen, zog er den Arm wieder heraus und machte die Tür leise zu. Der Kleine konnte darüber nur staunen.
Er durfte tatsächlich am Leben bleiben.
Mehrere Stunden später, nachdem sich das Gewitter wieder verzogen hatte und der Tag unter einem schiefergrauen Himmel angebrochen war, der weitere Regenfälle ankündigte, verließ der Junge langsam sein Versteck und kroch zu dem alten Mann, der an den blutverschmierten Schreibtisch gelehnt dalag.
»Großpapa?«
Als er den Arm der Leiche anfasste, spürte er dessen Steifheit; die einsetzende Totenstarre.
»Oh, Großpapa.« Er brach erneut in Tränen aus und fühlte sich auf einmal furchtbar allein.
Nachdem das Kind fast bis zur Besinnungslosigkeit geweint hatte, fielen ihm plötzlich die Blutstreifen auf der Abdeckung an der Seite des Schreibtischs ins Auge, in den er so oft geklettert war, wenn sein Großvater mit ihm Verstecken gespielt hatte.
Dahinter verbargen sich auch immer Geheimnisse, das wusste er.
Als er das Paneel öffnete, sah er mehrere zusammengebundene Ordner in dem Fach – acht Stück, es waren die Geheimnisse der Ungeheuer. Er nahm sie nacheinander heraus und prägte sich beim Durchblättern sowohl die darin enthaltenen Fotos als auch die dazugehörigen biografischen Angaben ein.
Er war zwar erst fünf Jahre alt, aber er schwor sich dennoch, diese Gesichter niemals zu vergessen.
Gegenwart, Vatikanstadt
Monsignore Dom Giammacio war im Vatikan der Berater für Geistliche, die mit ihrem Glauben haderten. Diese suchten ihn meistens auf, um die Bestätigung für ihre »unverschämte« Annahme zu erfahren, an der Existenz Gottes zu zweifeln sei keine Todsünde, und sie könnten vielleicht die eine oder andere fromme Anpassung vornehmen – sozusagen hier und dort psychologisch nachjustieren – um die Gunst des Herrn wiederzugewinnen. Der Monsignore vertrat hingegen die Meinung, wenn sie Gott auf diese oder jene Weise fürchteten, könnte man folgerichtig davon ausgehen, dass sie bis zu einem gewissen Grad auch an ihn glaubten. Denn warum sonst sollte man Angst vor etwas haben, das man für nichtexistierend hielt?
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