Aber – und das ist entscheidend – hier endet die Geschichte nicht. Auch in dieser Hinsicht ist Amerika außergewöhnlich. Das Land hat zwei gigantische Labore eingerichtet, wo zur Zukunft der Nation als Ganzes experimentiert wird. Texas und Kalifornien sind die beiden nach Einwohnerzahl und Fläche (sieht man von Alaska ab) größten Staaten der USA. Hier werden unterschiedliche gesellschaftspolitische Modelle wie wirtschaftliche Innovationen erprobt. Hier lässt sich ablesen, welchen Weg Amerika einschlagen könnte, wenn es um Einwanderung, Bildung und Gesundheitspolitik geht. Und das Selbstverständnis des Landes. Die Geschichte des Rostgürtels erinnert an die Geschichte des Ruhrgebiets. Doch wo ist unser Texas, unser Kalifornien? Unser Austin, unser Silicon Valley? Zentraleuropa sollte sich schleunigst ein Zukunftslabor bauen, schon um den Altlasten der Vergangenheit entgegenzuwirken. Wir altern beständig. Die Vereinigten Staaten sind die einzige westliche Industrienation, die jünger wird. Menschen aus aller Welt wollen dort ihr Glück versuchen. Das kommt nicht von ungefähr – und sollte uns zu denken geben. Mehr dazu im Kapitel » Labore hinter verschlossenen Türen« ab Seite 163.
Es ist offensichtlich: Amerika ist auf absehbare Zeit mit sich selbst beschäftigt. Ebenso offensichtlich ist ein weiterer – vierter – Grund für den Rückzug der USA auf sich selbst. Und doch wurde er von den Europäern und insbesondere den Deutschen lange allzu geflissentlich übersehen. Oder besser überhört. Im Sommer 2011 hält Obamas Verteidigungsminister Robert Gates eine flammende Rede in Brüssel. Das NATO-Engagement ihrer deklarierten Alliierten, der meisten europäischen Staaten und vor allem Deutschlands, ist den Amerikanern nicht genug. Erstere geloben Besserung, letztere warten ab. Neun Jahre später bestreiten die USA noch immer drei Viertel der Verteidigungsausgaben im Militärbündnis. Deutschland wendet 1.35 Prozent seines Staatsetats auf, zu den einst selbsterklärten 2 Prozent vom BIP kann man sich auf absehbare Zeit nicht durchringen. Das tut der Entrüstung keinen Abbruch, als Trump ein knappes Jahrzehnt nach Gates’ eindringlicher Mahnung ein Preisschild an die Bündnispolitik hängt. Ähnlich groß sind die transatlantischen Verstimmungen beim Handel. Trumps radikale Absage an multilaterale Freihandelsabkommen verstört viele, die Jahre zuvor das Freihandelsabkommen TTIP als Zumutung empfanden. Obamas Deutschland-Botschafter John Emerson sagt mir am Rande einer TV-Diskussion, sein Präsident wolle mit TTIP das transatlantische Verhältnis ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges auf eine neue Ebene heben. Wenig später gibt die US-Regierung entnervt auf. Zu diesem Zeitpunkt haben dreieinhalb Millionen Wallonen das Freihandelsabkommen CETA zwischen 500 Millionen Europäern und Kanada bereits über Monate ausgebremst. Das ist ihr gutes Recht, Entscheidungen wie jene bezüglich CETA werden in der EU einstimmig getroffen. Aber es kostet einen Preis. Ein amerikanisches Sprichwort lautet: You can’t have your cake and eat it, too. Entweder ich genieße den Kuchen und esse ihn auf. Oder ich esse ihn nicht, weil ich seinen Anblick genieße. Beides gleichzeitig geht nicht.
Meinungsverschiedenheiten mit den Bündnispartnern können teuer werden. Den höchsten Preis hat Amerika nach eigener Ansicht jedoch auf den Schlachtfeldern in Afghanistan, im Irak, in Libyen und in Syrien bezahlt. Die Hybris der Bush-Jahre ist vorüber. Niemand erwartet mehr, als Heilsbringer aus dem Westen empfangen zu werden. Bei ihren außenpolitischen Manövern hat sich die letzte Supermacht der Erde in diesem Jahrhundert einmal zu oft verhoben. In diesem Punkt hat sich die vermessene Weltsicht vieler Amerikaner der realistischen Einschätzung vieler Europäer über die Jahre angenähert. Die Zeit der Interventionisten ist vorbei, die Neokonservativen sind in der Versenkung verschwunden. Obama leitete den – rhetorisch elegant verpackten – Rückzug der USA aus diesem Teil der Welt ein, der im Amerikanischen Greater Middle East heißt. Die »konstruktive Entkoppelung«, so die Formulierung des 44. Präsidenten, führt sein Nachfolger Trump nun fort. Im Unterschied zu Obama lässt er keinen Zweifel daran, auf wen sich konstruktiv bezieht. Und wer den längeren Atem hat. Weshalb uns amerikanische Außenpolitik überlegen ist, erläutere ich im Kapitel » Zwischen Jackpot und Trostpreis« ab Seite 193. Ob das zukünftig so bleibt, ist eine andere – und wichtige – Frage. Taugt das US-Modell für die Herausforderungen, die sich im 21. Jahrhundert auf dem Globus stellen? Daran wiederum schließt sich eine Frage an, die wir in Europa paradoxerweise zuerst klären sollten: Wenn das US-Modell nicht tragen sollte, welches Modell lassen wir uns dann rechtzeitig einfallen …?
Der fünfte und letzte Grund für den Rückzug der USA widerspricht dem vierten Grund. So scheint es zunächst. Allerdings nur unter der Annahme, dass US-Außenpolitik nach wie vor vom Streben nach langfristigen Bindungen geprägt ist. Tatsächlich fahren die Amerikaner schon seit geraumer Zeit einen neuen Ansatz: transaktionale Politik. Das kurzfristige Ziel der Profitmaximierung im Auge, werden zeitlich begrenzte Abkommen geschlossen, gleich einer Geschäftsvereinbarung. Solange sie beiden Seiten nützt, hat sie Bestand. Ansonsten kann sie jederzeit aufgelöst werden. Sodann spricht nichts dagegen, mit der Konkurrenz des Geschäftspartners einen anderen Deal einzugehen. Oder auch Abkommen mit einem Gegenüber zu treffen, dessen Wertvorstellungen man ansonsten nicht teilt. Der Geschäftsmann an der Spitze der US-Regierung steht für dieses Gebaren wie niemand vor ihm; stilecht wurde schon so manches Geschäft der internationalen Beziehungen auf dem Golfplatz abgeschlossen. Moralisch angreifbar in ihrer Skrupellosigkeit, ist diese Herangehensweise zunächst einmal im uramerikanischen Sinne pragmatisch – und auch unter einem möglichen Präsidenten Biden durchaus wahrscheinlich. Ideologie spielt nur eine untergeordnete Rolle. Allenfalls besteht die Ideologie in der Unberechenbarkeit für die andere Seite. Die Ausnahme stellt das Leitmotiv »Amerika zuerst« dar, das immer gilt.
So betrachtet gibt es ein stimmiges Konzept der Amerikaner hinter ihrem Rückzug aus dem transatlantischen Raum, ihrer strategischen Abwertung des Nahen Ostens und ihrem gleichzeitig punktuell sehr entschiedenen Engagement z.B. im Fernen Osten. Entgegen aller Beteuerungen der Obama-Regierung gilt: Der Achsendreh der Amerikaner nach Asien bedeutet, dass den Europäern der Rücken zugedreht wird. Die Zukunft liegt aus US-Sicht in China und darüber hinaus im indopazifischen Raum. Die Achse »Hollywood-Bollywood« gewinnt rasant an Bedeutung. Doch bis auf Weiteres steht im Zentrum der Aufmerksamkeit China, dessen Aufstieg nach Ansicht der Amerikaner nur China selbst verhindern kann. Unter Aufmerksamkeit ist eine Mischung aus Argwohn, Profitgier und Konkurrenzgebaren um die globale Vorherrschaft zu verstehen. In jedem Fall höchstes Interesse. Hiervon bleibt für die alten Partner im Westen (verstanden als Wertegemeinschaft, denn geografisch liegen wir aus US-Sicht im Osten) herzlich wenig übrig. Ein »New Kid in Town« Moment, den die Eagles auf Hotel California bereits Mitte der 70er-Jahre besungen haben. Heute ein dringender Weckruf für Europa. Mehr hierzu ebenfalls im Kapitel » Zwischen Jackpot und Trostpreis« ab Seite 193.
Eine Welt ohne Amerika und mit Amerika
Fünf Gründe, die keinen Zweifel zulassen: Amerika braucht den Westen nicht. Das hat Konsequenzen, die Game Over erläutern wird. Sie nicht zu erfassen, kommt Europa teuer zu stehen. An erster Stelle den europäischen Schrittmacher Deutschland, aber ebenso kleinere Nationen wie die Schweiz, die auch als nicht-EU Länder schon aus geografischen Gründen von Washington unter »Europa« und damit »dem Westen« verbucht werden.
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