TV: Da hat, wie ich mich erinnere, unser Lehrer Feltz eine große Rolle gespielt. Er meinte, wir müssten einen Wettbewerb mitmachen, weil sich das für gute und begabte Studenten so gehöre. Er war natürlich nicht ohne beruflichen Ehrgeiz und wollte Erfolge sehen, weil er sich auch mit anderen Hochschullehrern, nicht nur in Berlin, verglich, deren Studenten schon Erfolge gehabt hatten. Das ist menschliche Realität, zu keiner Zeit und nirgendwo auf der Welt anders.
Aber auch ein Professor Feltz, vielleicht besonders stolz auf einige seiner Schüler, konnte Sie, unter den damaligen Verhältnissen, nicht einfach nach Frankreich delegieren. Da kommt doch bestimmt mindestens noch die Hochschulleitung ins Spiel.
SFO: Das ist eine lange Geschichte. Um zu einem Wettbewerb fahren zu dürfen, musste man vor einer zentralen ständigen Jury aus Spitzenpädagogen der DDR in Leipzig, in der Alten Börse, spielen. Da Quartette eine absolute Nische darstellten – es gab außer uns ohnehin nur zwei oder drei, die in Frage kamen –, war für uns die Geigenjury mit zuständig. Das Ganze war Teil eines gut organisierten Systems der Talentefindung sowie der Nachwuchsförderung, und wenn man das positive Votum der Jury einmal hatte, war die Teilnahme an einem internationalen Wettbewerb denkbar. Die Kriterien waren streng; weniger Qualifizierte wollte man nicht schicken; auch kostete eine Delegierung in eine kapitalistische Region das Land einige Devisen für Reisen, Hotel und Verpflegung.
Diese Vorauswahl, die Sie bestanden hatten, fand ein Jahr vor dem Wettbewerb, also 1985, statt und war offenbar erst einmal ein recht abstraktes Votum, das aber für noch nichts garantierte.
SFO: Das ganze Procedere mit Beantragungen und dem ominösen Reisekader-Status begann erst danach. In diesem Punkt hatte ich eine einschlägige Erfahrung, als ich 1984 an einem Solo-Wettbewerb in Belgrad teilnehmen wollte – in Jugoslawien, das zwar deklarativ noch als sozialistisches, aber ökonomisch schon als kapitalistisches Land galt. Man brauchte also einen Reisepass und ein Visum. Eine Woche vor Beginn kam vom Rektor der Hochschule die Mitteilung, dass ich keinen Pass bekommen konnte, vermutlich hatte jemand etwas dagegen, einen Nicht-FDJler in den Westen reisen zu lassen. Deshalb nahm ich Kontakt mit Manfred Stolpe auf, damals Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, den ich über meinen Vater, der zu jener Zeit Bischof von Berlin-Brandenburg war, gut kannte. Ich wusste, dass Stolpe zum Staatsapparat berufsbedingte Beziehungen pflegte. Wenige Tage später erhielt ich vom Prorektor der Hochschule die Mitteilung, dass ich doch fahren könne – obwohl der Wettbewerb schon kurz vor dem Abschluss stand. Aber immerhin wusste ich nun, dass sich etwas bewegen ließ, und so sprach ich wegen des nahenden Quartett-Wettbewerbs sozusagen vorbeugend wieder bei Stolpe vor, weil mir klar war, dass ich ohne Mitgliedschaft in der Organisation der »Freien Deutschen Jugend« wieder Schwierigkeiten bekommen würde. Diese Extraunterstützung war notwendig, und Stolpe hat es offensichtlich hingekriegt, dass wir nach Evian fahren konnten.
Wie ging es Ihnen dort, was haben Sie konkret erlebt?
FR: Im französischen Evian fand der bedeutendste Wettbewerb für Quartette statt, und wir wollten von vornherein so auftreten (obwohl wir uns vielleicht etwas fremd und klein vorkamen), als ob wir uns hier richtig und wichtig fühlten – genau wie die anderen Teilnehmer mit ihren bisweilen etwas großspurigen Attitüden. Außer uns waren noch 15 weitere Quartette angetreten, die aus ganz Europa kamen. Wir haben ihnen aufmerksam zugehört, und ich dachte sehr oft – trotz meiner selbstkritischen Ader –, dass auch sie nur mit Wasser kochten.
SFO: Ein amerikanisches Quartett war wegen Tschernobyl nicht erschienen, weil die Mitglieder Angst vor atomarer Ansteckung bekommen hatten. Ein anderes, sehr berühmtes, war allerdings als Jury-Mitglied gekommen: das LaSalle Quartet.
Was haben Sie spielen müssen?
FR: In der ersten Runde Mozart, den ersten Satz aus dem A-Dur-Quartett KV 464, eines der Gipfelwerke seiner Quartettkunst aus dem Jahre 1785, als Pflichtstück, dann ein modernes Stück nach freier Wahl. Während die meisten Teilnehmer ein Quartett von Béla Bartók spielten, hatten wir uns für das 2. Streichquartett von György Ligeti entschieden, eines der Schlüsselstücke moderner Kammermusik aus dem Jahr 1967, welches übrigens unsere Juroren, das LaSalle Quartet, in Auftrag gegeben und 1968 uraufgeführt hatten.
SFO: Vielleicht war es ein Riesenglück, dass dieses LaSalle Quartet als gewichtigster Teil einer weitaus größeren Jury uns gehört hat. Wir haben das Stück offenbar so mühelos und engagiert gespielt, dass ihnen, die es doch wie niemand sonst kannten, irgendwie der Unterkiefer herunterhing. Als wir fertig waren, standen sie auf, die vier Berühmtheiten, und applaudierten, was im Rahmen eines Wettbewerbes sehr ungewöhnlich ist. Unter damals nicht unbedeutenden Mitbewerbern wie dem Ysaÿe Quartet, dem Martinu-, dem Verdi Quartett und anderen erhielten wir den 1. Preis, und ich bin sicher, dass wir ihn dem Werk von Ligeti verdankten, auch wieder einer nachdrücklichen Empfehlung von Professor Feltz folgend. Für mich war es psychologisch noch sehr wichtig, dass durch dieses Stück die Jury auf unserer Seite war und zumindest ein Preis in Aussicht stand, der – das war klar ausgesprochen worden – vom Kulturministerium auch unbedingt erwartet worden war! Insofern haben wir dann auch die 2. Runde entspannt angehen können.
FR: Es ist sicher richtig, was Stephan sagt, aber bei mir dominierte in der 2. Runde eher das bange Gefühl, dass es nun wirklich ernst wurde und um etwas Wichtiges ging. Es stieg die Nervosität, und tatsächlich lag es dann an mir, dass im letzten Satz vom Brahms-Quartett eine Stelle (mit diesen kleinen Einwürfen und Pausen) ganz schön geklappert hat. Neben Ligeti und Mozart, der in der letzten Runde komplett gespielt werden musste, gab es noch zwei weitere Pflichtstücke: das Streichquartett von Debussy und das a-moll-Quartett von Brahms – ein erstaunlich kleines, gedrängtes Programm übrigens, wenn man es mit den heutigen, extensiveren, wesentlich umfangreicheren Anforderungen bei Wettbewerben vergleicht.
Wollen Sie etwas über die Modalitäten des Preises verraten?
SFE: Der Vollständigkeit halber muss gesagt werden: Wir bekamen in Evian den 1. Preis, plus den Preis für die beste Interpretation eines zeitgenössischen Stücks (also Ligeti), plus den Pressepreis. Wir fuhren also mit insgesamt drei Preisen nach Hause. Alle drei waren dotiert – das war schon einigermaßen spektakulär. Aber mindestens ebenso wichtig waren die internationalen Konzerte, die uns schon gleich in Evian von anwesenden Agenturen und dann gehäuft nach unserer Rückkehr angeboten wurden.
TV: Es war allerdings noch nicht so wie heute, dass gleich Manager mit am Tisch sitzen, Folgeverträge verteilen und Tourneen organisieren, die sowohl für die Veranstalter als auch für die Quartette, die gewonnen haben, günstig sein können – oft mit dem Nachteil, dass sie dann nach dem Jahresvertrag, den sie in der Regel bekommen, wieder in der kalten Luft stehen, denn dann gibt es die nächsten Wettbewerbssieger … Das Preisgeld in französischen Francs war relativ hoch, für unsere Ostverhältnisse wie ein Sechser im Lotto. Ich glaube allerdings, wir durften nicht alles in Originalwährung behalten.
FR: Ich weiß noch ganz genau, wie es war: Von der Gesamtsumme mussten 40 % eins zu eins in DDR-Mark umgetauscht werden. Das heißt, beim Preis kamen auf jeden ungefähr 10.000 DM und von diesem Geld wurden 4000 DM in Mark der DDR gewechselt, während wir den größeren Rest in West-Mark behalten durften. Es kam noch hinzu, dass wir in der Schweiz ein Folgekonzert hatten, mit Franken ordentlich vergütet, die wir gar nicht angegeben haben.
Читать дальше