Dass der Ausbau des österreichischen Sozialstaates nach 1945 im Wesentlichen erst in den 1950er Jahren in Gang kam, hing nicht nur mit dem prekären ökonomischen Kontext in den Nachkriegsjahren zusammen. Nach Kriegsende ging es vor allem darum, die reichsrechtlichen, ab 1939 in Kraft getretenen Regelungen durch österreichisches Recht zu ersetzen. Die „Austrifizierung“ wurde im sozialpolitischen Bereich schrittweise vollzogen. Alternativen zur Tradition einer erwerbsarbeitsbezogenen Sozialversicherung wurden zwar in der Nachkriegszeit – mit Blick auf den strukturellen Umbau der Sozialversicherung in anderen europäischen Ländern wie Großbritannien und Schweden – von der Sozialdemokratie unter dem Schlagwort „Volksversicherung“ ansatzweise thematisiert, jedoch realiter nicht ernsthaft verfolgt.
Die staatlichen Aktivitäten im Bereich der sozialen Sicherung kreisten vorerst zum einen um Fragen der Fürsorge für die Opfer des Krieges und des Faschismus. Das Invalideneinstellungsgesetz (1946) und das Kriegsopferversorgungsgesetz (1949) knüpften an die Gesetzgebung der Ersten Republik an (Obinger/Grawe 2020). Die Versorgung der Opfer politischer Verfolgung wurde mit den Opferfürsorgegesetzen 1945 bzw. 1947 geregelt, wobei der Empfängerkreis zunächst eng gezogen war. Das Gewicht dieser Programme ist daran ablesbar, dass vom Sozialbudget des Bundes im Jahr 1950 40% für die Kriegsgeschädigtenfürsorge aufgewendet worden waren. Zum anderen ging es um konkrete Probleme wie die Erhaltung des Niveaus verschiedener Leistungen durch Anpassungen an die Preis- und Lohnentwicklung, die Reetablierung der Organisation der Sozialversicherung mit ihrer Selbstverwaltungsstruktur und die Bewältigung von Finanzierungsproblemen.
Im Anschluss an die wirtschaftliche Wiederaufbauphase zu Beginn der 1950er Jahre lässt sich ein bemerkenswerter Ausbau in allen relevanten Sozialpolitikbereichen konstatieren. Die Erweiterung des Arbeitsschutzes ist vor allem an Maßnahmen wie der Verkürzung der Arbeitszeit ersichtlich. Nach der Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf dem Weg eines Generalkollektivvertrages (von 48 auf 45 Stunden im Jahr 1959) erfolgte mit dem Arbeitszeitgesetz aus 1969 die etappenweise Einführung der 40-Stunden-Woche bis zum Jahr 1975. Die Jahresarbeitszeit wurde durch eine schrittweise Verlängerung des Urlaubsanspruches von zwei (in der Nachkriegszeit) auf vier Wochen (1976) reduziert. Mit der Verlängerung des Urlaubes sollte zugleich die traditionelle Ungleichstellung von Arbeiter/innen beseitigt werden. Dem dienten Schritte wie die Einführung der Entgeltfortzahlung (1974) und die Abfertigung für Arbeiter/innen (1979). Während das Individual arbeitsrecht auf dem Weg von Einzelmaßnahmen (wie beispielsweise Arbeitszeitregelungen) ausgestaltet wurde, folgte eine umfassendere Regelung des kollektiven Arbeitsrechtes mit dem Arbeitsverfassungsgesetz aus 1973. Dieses beinhaltet vor allem auch erweiterte Mitbestimmungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer/innenschaft. Ende der 1970er Jahre wurden erste Ansätze einer Geschlechtergleichstellungspolitik in Form der Gleichbehandlung in der Entlohnung realisiert (siehe z. B. Tálos/Falkner 1992; Rosenberger 2006).
Ausgeprägter noch als im Arbeitsrecht zeigen sich im Bereich der sozialen Sicherung beachtliche Expansionstendenzen. Neben Regelungen betreffend Organisation und Finanzierung bildeten die personelle Reichweite und der Umfang sowie das Niveau der Leistungen Kernpunkte der Maßnahmen in der Sozialversicherung seit den 1950er Jahren. Als Basisgesetz dafür fungierte das 1955 beschlossene Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG), mit dem auch die Bemühungen um eine „Austrifizierung“ der Sozialpolitik zu einem Abschluss kamen. Zugleich wurden damit erste Schritte zur Vereinheitlichung des Sozialversicherungsrechts von Arbeiter/innen und Angestellten unternommen. Das ASVG wurde mit seinen zahlreichen Novellierungen in der Folgezeit zum „Leitgesetz“ und Rahmensetzer für die Entwicklung der Sozialversicherung der Zweiten Republik insgesamt.
Die Ausweitung des Versichertenkreises ist in den Nachkriegsjahrzehnten in erster Linie auf die Ausdehnung der Pflichtversicherung durch Inklusion breiter Teile der selbständig Erwerbstätigen zurückzuführen.
Der Ausbau ist vor allem auch am Leistungssystem ersichtlich: Leistungen wurden an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst, einzelne Leistungen verbessert und neue eingeführt (siehe Tálos/Wörister 1998; Badelt/Österle 1998). Einen bedeutenden Schritt diesbezüglich stellt die Einführung der Rentendynamik Mitte der 1960er Jahre dar. Kernpunkt dabei ist die Sicherung der Kaufkraft durch Anpassung der Leistungen an die allgemeine Einkommensentwicklung und Inflation. Die Richtsätze der mit dem ASVG 1955 eingeführten neuen Leistung der Ausgleichszulage wurden laufend und zum Teil außerordentlich angehoben. Diese stellt eine bedarfsabhängige Mindestleistung für Pensionsberechtigte und damit die einzige Geldleistung in der Sozialversicherung dar, die der Sicherung eines Existenzminimums dienen sollte.
Zahlreiche Leistungen erfuhren Veränderungen im Sinne der Betroffenen: Die Anstaltspflege wurde als gesetzliche Mindestleistung eingeführt, der Wochengeldanspruch erhöht und verlängert, die Anspruchsdauer beim Kranken- und Arbeitslosengeld verlängert, der Unfallversicherungsschutz über den Arbeitsunfall hinaus ausgedehnt und die Liste der Berufskrankheiten erweitert. Zur Witwenpension gab es Zuschläge. Nicht zuletzt erfolgte eine Erhöhung des Grundbetrages ebenso wie der Steigerungsbeträge in der Pensionsversicherung.
Beispiele für die Erweiterung des Leistungsspektrums sind auch die Rehabilitation im Gesundheitssystem, Gesundenuntersuchungen und Jugenduntersuchungen, die Anrechnung von Schul- und Studienzeiten in der Pensionsversicherung, die Unfallversicherung für Studierende, die vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit und langer Versicherungsdauer sowie die Rentensonderzahlungen (13. und 14. Rente). Die Expansion in personeller und sachlicher Hinsicht hatte zusammen mit demografischen Faktoren wie der zunehmenden Lebenserwartung zur Konsequenz, dass die Sozialausgaben einen beträchtlichen Anstieg verzeichneten (siehe Grafik 1.3. unten).
Der Neuordnung der „Armen“-Fürsorgepolitik in den 1970er Jahren in Form von Länder-Sozialhilfegesetzen lag ein breiteres Verständnis sozialer Fürsorge zugrunde. Neben dem traditionellen Aspekt der Sicherung eines materiellen Existenzminimums, wofür nach wie vor die im 19. Jahrhundert konstituierten Prinzipien der Subsidiarität, d.h. der Nachrangigkeit staatlicher Hilfe, sowie der Individualisierung von Problemlagen maßgeblich waren, sollte die Sozialhilfe auch auf bisher nicht berücksichtigte soziale Probleme abgestellt werden. Konkreten Niederschlag fand dieses Verständnis in einem erweiterten Leistungsspektrum, umfassend die Hilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes (Geld- und Sachleistungen), die Hilfe in besonderen Lebenslagen (Überbrückung außerordentlicher Notsituationen) sowie soziale Dienste für alte, kranke oder behinderte Menschen (siehe Pfeil 2000; Dimmel 2003; Melinz 2003).
Als Ergänzung zu den traditionellen arbeitsmarktbezogenen Instrumenten der Budget- und Wirtschaftspolitik wurde 1968 die aktive Arbeitsmarktpolitik eingeführt. Ihre Aktivitäten beziehen sich in erster Linie auf die Anpassung der Arbeitskräfte an Bedarf und Nachfrage sowie die Mobilisierung von Arbeitskräften – reichend von Information, Vermittlung bis zu diversen finanziellen Förderungen und Beihilfen.
Eine enorme Ausweitung in den Nachkriegsjahrzehnten erfuhr der Bereich familienrelevanter Leistungen (siehe Münz 1984; Wrohlich 2003; Mayrbäurl 2004). Das Spektrum umfasst eine breite Palette – reichend von den Kinder- bzw. Familienbeihilfen, vom Wochen- und Karenzurlaubsgeld, von Mutterbeihilfen, von Kinderzuschüssen in der Pensionsversicherung, vom Familienzuschlag in der Arbeitslosenversicherung bzw. Familienzulagen bis hin zu steuerlichen Familienförderungen (Kinderabsetzbetrag, Alleinverdiener- und Alleinerzieherabsetzbetrag).
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