1 ...8 9 10 12 13 14 ...37 Den 31. Mai des Jahres 1662.
Colombe Sanson.«
Man kann sich leicht die Verwirrung denken, welche diese schmerzlichen Vorwürfe in der ohnehin schon so getrübten Seele Charles Sansons anrichten mussten.
Bei dem Gedanken, dass er von seinem viel geliebten Bruder für immer getrennt werden sollte, vergoss er aufrichtige Tränen, gleichzeitig aber beschleunigte eine andere Idee den Blutlauf in seinen Adern und versetzte ihn in die tödlichste Angst.
Er dachte mit Schrecken an das, was zwischen Colombe und ihm an dem Tage, an dem er sie verlassen hatte, vorgefallen war; er schöpfte aus dieser Erinnerung die Überzeugung von seiner Schwachheit und der Eitelkeit seiner Vorsätze, und er wagte sich nicht die Frage vorzulegen, was geschehen würde, wenn die Hand Gottes das Hindernis, vor dem seine Leidenschaft zurückgewichen war, fortgeräumt hätte.
Und als ob dies noch nicht genug gewesen wäre, ihn niederzubeugen, verwundeten noch die kleinen, aber gebieterischen Sorgen der Existenz derer, die er liebte, sein zerrissenes Herz.
Die Krankheit Jean Baptistes hatte die Hilfsquellen der unglücklichen Wirtschaft erschöpft.
Charles hatte seinem Bruder das wenige Geld, das er besaß, geschickt, aber aus den schmerzlichen Klagen in den Briefen Colombes hatte er ersehen, dass dieses Opfer bei weitem nicht für die Bedürfnisse, die mit dem Übel zunahmen, hingereicht hatten.
Er antwortete seiner Schwägerin, denn ich finde in seiner Korrespondenz noch zwei Briefe von Colombe Sanson, die das Datum vom Juni 1662 tragen, mehrere Abschriften von der Hand Charles', die sich alle auf die Krankheit seines Bruders beziehen, und eine große Anzahl verschiedener Papiere, auf denen er Sätze mit durchstrichenen Worten entworfen und die er mit einer Sorgfalt aufbewahrt hatte, welche anzeigt, dass er einen hohen Wert auf das legte, was ihm die erste Liebe seiner Jugend in das Gedächtnis zurückrief.
Als mein Ahne eines Nachmittags in das Haus, das er bewohnte, zurückkehrte, fand er auf der Schwelle einen Boten, der ihn erwartete. Dieser Mann überreichte ihm einen Brief.
Er hatte kaum die Augen auf die Aufschrift geworfen, als er leichenblass wurde; er wankte, und wäre die Bank nicht dagewesen, auf die sich der Bote gesetzt hatte, so würde er rückwärts übergefallen sein.
Er hatte die Handschrift seiner Schwägerin erkannt, und diese Schrift war zur Hälfte durch die Tränen, welche das Papier durchnässt hatten, verwischt. Bevor Charles noch den Brief geöffnet hatte, erriet er schon, dass Jean Baptiste tot sei.
Wirklich kündigte ihm Colombe das Unglück an, das sie betroffen hatte. Sie fügte hinzu, dass ihre Verzweiflung um so größer sei, als sie zu ihm von anderen Dingen sprechen müsse als von dem, den sie verloren hätten. Die sterblichen Überreste des armen Blinden waren noch nicht bestattet, als seine alten Kollegen, die Männer des Gesetzes, sich auf die armselige Beute stürzten. Colombe hatte nicht unter dem bescheidenen Dache bleiben dürfen, das den Ruin ihres Mannes beschützt hatte; sie hatte weder Hilfe noch Mitleid bei den Verwandten gefunden, die ihr noch zu Abbeville geblieben waren; da hatte sie an ihren Bruder gedacht und sich auf die Reise gemacht, um ihn zu suchen, aber ihre Kräfte hatten ihren Mut im Stiche gelassen; abends zuvor hatte sie im Dorfe Envermeu, einige Meilen von Dieppe, haltmachen müssen und erwartete, dass Charles sie von dort abhole, um sie in das Asyl zu führen, das er für sie wählen würde.
Charles blieb einen Augenblick unbeweglich, stumm und ganz niedergeschmettert durch die empfangene Mitteilung. Endlich riß er sich aus seiner Erstarrung, entließ den Boten, sattelte selbst sein Pferd und jagte verhängten Zügels nach Envermeu.
Gegen fünf Uhr abends langte er bei Envermeu an.
Dicht vor dem Dorfe, auf der Höhe des letzten Hügels, stand ein steinernes Kreuz; aus dem Talgrunde schon bemerkte Charles eine schwarz gekleidete Frau, die auf den Stufen dieser kleinen Kapelle saß. Sein Pferd, das durch die Schnelligkeit des Laufes außer Atem gekommen war, wollte eine langsamere Gangart annehmen, aber heftig von seinem Reiter angetrieben, setzte es sich in Galopp und hatte in einigen Sekunden den Gipfel des Hügels erreicht.
Colombe hatte ihren Boten bis dahin begleitet und sich dort niedergelassen, um die Ankunft dessen, den sie zu sich berufen hatte, zu erwarten.
Als sie seine Annäherung bemerkte, verbarg sie ihr Antlitz in die Hände. Charles war von seinem Pferde gesprungen und stand vor ihr; aber sie erhob das Haupt nicht; man hörte nur ihr Schluchzen und sah, wie sich ihre Brust hob und in einem konvulsivischen Krämpfe abquälte.
Charles rief seine Schwägerin bei Namen und beugte sich über sie, aber Colombe, die sich erhob, vermied seine Umarmung und zeigte auf das Kreuz, das vor ihnen seine schwarzen, mit Moos bewachsenen Arme ausstreckte; sie schien damit sagen zu wollen, dass er, bevor er zu ihr käme, erst zu dem gehen solle, der in allen Bekümmernissen und Sorgen aufrechterhält und tröstet.
Beide knieten auf die Granitstufen nieder, und ihre Herzen vereinigten sich in einem Gebete für den, der nicht mehr war.
Als Charles sich wieder erhob, fühlte er sich sonderbar erfrischt und gestärkt.
Er nahm ihre Hand, und er fühlte bei ihrer Berührung nicht wie ehemals einen leisen Schauer in seinem Körper; er blieb ruhig, wenn er sie, die trotz ihrer Blässe und der Anzeichen ihres Leidens immer noch schön war, betrachtete. Er atmete frei und glücklich.
Er begriff, dass er mit der Stärke, die ihm diese reine und keusche Zuneigung geben werde, von jetzt an dem Unglück trotzen könne.
So gingen sie Seite an Seite bis nach der Hütte der Bauern, die, von Colombes Verzweiflung gerührt, ihr tags zuvor Gastfreundschaft gewährt hatten.
Charles wünschte, dass Colombe, die schwach und kränklich schien, noch einen Tag länger bei ihren Wirtsleuten bliebe, aber sie hatte, beruhigt durch die Offenheit, mit der ihr Freund sein Unrecht gestanden hatte, durch die Ruhe seiner Sprache und seines ganzen Benehmens, Eile, Envermeu zu verlassen und nach Dieppe zu gelangen.
Charles setzte sie auf sein Pferd; er nahm die Zügel des Tieres in die Hand, und indem er nebenher ging, schlugen sie den Weg nach der Stadt ein.
Unterwegs sprachen sie viel von der Vergangenheit, d.h. von Jean Baptiste, denn es schien sich nunmehr von selbst zu verstehen, dass der Horizont, den sie hinter sich ließen, von dem Tage begrenzt war, an dem Charles das Haus Pierre Brossiers verlassen hatte; sehr viel plauderten sie auch von der Zukunft.
In dem Augenblicke, in dem Colombe mit beredteren Worten, als es meine Feder vermag, das Gemälde der Glückseligkeit entwarf, die sich jetzt, nachdem sie sich so heiß geliebt, sich einer dem anderen mit der höchsten Selbstverleugnung geopfert hatten, die Hand reichten, ehe sie in die Ewigkeit traten, die allein eine wahre Vereinigung herstellt, gelangten sie auf den Gipfel eines Hügels, von wo aus sie den Ozean in seiner ganzen Unermesslichkeit sich vor ihnen ausbreiten sahen.
Die Hitze des Tages war drückend gewesen. Große Wolken von kupfrig schwarzer Färbung häuften sich über ihnen auf und zogen schwer von Osten gegen Westen. Aber diese Wolken hatten den Horizont im Westen noch nicht bedeckt, und durch eine breite Spalte, die dem Herde einer Schmiede glich, sah man die Sonne in ihrem Untergange siegreich gegen die doppelte Finsternis des Sturmes und der Nacht kämpfen. Das Meer flammte wie eine große Feuerpfanne, seine Wellen wallten auf und nieder, als waren sie Wogen von Lava gewesen. Näher an die Küste heran waren die Gewässer des Ozeans, deren Oberfläche nicht ein Hauch bewegte, so finster wie der Himmel, von Zeit zu Zeit aber zuckte ein Flammenstrahl aus dem glühenden Krater, und die schwärzliche Fläche erglänzte von blutigen Reflexen.
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