Die Ziege hatten die Mädels allerdings nicht lange. Die Hühner, für deren Gehege Henni Justus Karnerich mobilisiert hatte, kamen schon in der ersten Nacht weg. Danach hielten sie die Ziege auf dem Dachboden (die drei wohnten zur Untermiete bei Schuster Klapp, im selben Schlag, in dem einst Hendrik »Eene hab ick ja noch« gewohnt hatte), eines der Mädels schlief immer bei ihr und bewachte sie. Doch so eine Ziege ist nun mal weitherum zu hören und zu riechen, und als Minna in der fünften Nacht Wache schob, bekam sie Besuch von unbekannt. Noch im Schlaf fing sie sich eine satte Ohrfeige ein und fasste sich erst, als die Ziege schon meckernd durch die Dachluke geflogen und mit dumpfem Krachen im Hof gelandet war. Als die Lüneburger Mädels im Morgengrauen endlich wagten nachzusehen, brutzelte sie sicher schon in einer Pfanne. Nur der Blutfleck war noch eine Weile zu sehen.
Danach wären sie am liebsten gleich wieder nach Hause, denn auch sonst kamen sie mit dem Stadtleben schlecht zurecht. Sie verstanden die Berliner Schnauze nicht, und wenn sie um Arbeit anstanden, waren sie viel zu langsam, zu höflich und zu scheu. Doch das Geld für die Rückfahrt hatten sie Schuster Klapp gegeben, und den Eltern zu schreiben, trauten sie sich nicht, denn offiziell waren sie ja zur Erholung an der Ostsee. Dass sie stattdessen einen verregneten April lang in einem dritten Hinterhof am Prenzlberg zur Untermiete hockten, ohne Ofen, ohne Geld, ohne Ziege und Hühner, ohne Arbeit oder auch nur ein wenig Hoffnung, schüttelte sie heftig, und keine wollte schuld gewesen sein. Da half es wenig, dass Henni prahlte, wie knafte ihr Berlin war, hatte man sich erst an ein paar Dinge gewöhnt, und sich allerhand Mühe gab, sie auf den Geschmack zu bringen.
In ihrem Mitleid nahm sie sie schließlich mit zu Anna Köchel. »Wenn ihr da keinen Spaß kriegt, weiß ich auch nicht. Und selbst wenn nicht, die Asche für die Heimfahrt verdient ihr da mit einem Wackler mit dem Hintern.«
So hielten Minna, Berta und Auguste durch, bis Anna Köchel von einer Reise zu ihrem Patenkind nach Travemünde zurück war, und an einem Freitagmittag ließen sie sich präsentieren.
»Ach Gottchen, was bringste denn da«, rief Anna Köchel erst nur, denn Landeier waren bei der Kundschaft wenig gefragt. Henni zuliebe fasste sie sich dann aber ein Herz, taufte die Mädels um in Hanny, Fanny und Tilly, schickte sie zu Anna und Olga, dass die ihnen etwas Schmissiges nähten (streng verbrieft auf Kredit), und versprach, sie ihren Gästen am anderen Abend anzudienen. Henni war begeistert, begleitete die drei zu Anna und Olga, und während Maß genommen wurde, brachte sie den Mädchen noch ein paar praktische Sätze bei wie: »Ohne Moos nüscht los«, »Kommste rin, kannste rauskieken«, oder: »Eenmal Küche ausjefeecht macht schlappe Fünfe, für Zehne mach ick mich noch nackich.«
Anna und Olga hatten ihnen aus »loser Raschelware«, wie sie eine olle Gardine nannten, hübsche Schlupfblusen genäht, deren Saum haarscharf dort lag, wo das Bein aufhörte und die Lüneburger Heide zu sprießen begann. Anna Köchel befahl ihnen, die Zöpfe aufzudröseln, rieb ihnen die Backen rot und drapierte sie direkt unterm Lüster auf dem Sofa. Sie sahen richtig süß aus, Henni war tüchtig stolz und überzeugt davon, dass sie Anna Köchel einen Renner beschert hatte. Allerdings futterten Hanny, Fanny und Tilly, noch ehe die Gäste eintrudelten, alle Mettwurst-Schnittchen weg. Danach hockten sie wie die Hühner auf der Stange steif und aneinandergepresst auf der Sofakante, kriegten den Schnabel nicht auf, wenn ein Herr sie ansprach, und Tilly fing auch noch an zu heulen. Anna Köchel bot die Lüneburger Mädels vier Stunden lang wie sauer Bier an, um Mitternacht ertrug sie ihre langen Gesichter dann nicht mehr und jagte sie in ihren Schlupfblusen davon.
Henni wollte den dreien nach und rannte auf dem Treppenabsatz in Hanny, die hatte noch im Hof kehrtgemacht. Vor den anderen Mädels hätte sie sich ja geniert, sagte sie mit hochrotem Kopf, aber eigentlich hatte sie sich noch gar nicht sattgesehen.
Und ohne ihre Freundinnen blühte Hanny so richtig auf. Erst tanzte sie ganz ungefragt mit Henni um Mitzi Stresemann herum und half die Schleier fangen. Dafür durfte sie zusehen, als Mitzi mit einem der Herren im Zimmer verschwand, und danach glühte sie so reizend, dass sie noch vor ein Uhr die ersten beiden Freier hatte. Das beeindruckte sogar Anna Köchel, sie gab einen Toast auf Henni aus und erkor sie feierlich zur geborenen Kupplerin.
Als Henni auch noch verriet, dass Hanny richtig echt melken könne, und Hanny übermütig rief: »Die Henni kann das aber auch!«, ging es erst richtig rund, denn Anna Köchel arrangierte daraus gleich ein Sonderprogramm. Bis morgens um viere saßen Hanny und Henni breitbeinig auf dem Sofa und molken der Reihe nach alle anwesenden Herrschaften, manche gleich zwei- oder dreimal.
So kam Henni zu ihrem ersten »Fleischkontakt« und ihrem ersten selbstverdienten Geld (abgesehen von den Dackelgroschen und ein paar Trinkgeldern fürs Zusehen). Hanny war von da an Teil der Familie, und weil Anna Köchel neuerdings ein Sonntagsfrühstück anbot, zu dem sie Anita Berbers Frühstücks-Elixier reichte, was Chloroform und noch was auf echte Rosenblütenblätter geträufelt war, dazu gab es Opium in Pfeifen und Morphiumzäpfchen, die man sich gegenseitig verehrte, und weil Hanny Landei natürlich an dem Morgen besonders viel verehrt wurde, war sie auch gleich so süchtig, dass sie das nächste Wochenende kaum erwarten konnte.
Henni war schon früher zurück unter ihrer Treppe. Ausschlafen war dort sowieso nicht, und zu Binneweisens Sonntagsspaziergang wollte sie auch nicht zu gerädert erscheinen.
Sie spazierten an der Spree entlang, weil endlich mal die Sonne schien und man dort am meisten davon abbekam, und Henni war noch immer guter Laune, weil sie am Abend davor doch viel Gutes getan hatte.
Als sie zurück in die Mietskaserne kam, wartete eine heulende Hanny auf sie und erzählte, dass ihre schöne Busenfreundschaft mit Fanny und Tilly in die Binsen gegangen war. Tilly war nach dem Rausschmiss bei der Köchel nur noch schnell bei Schuster Knapp vorbei, um ihr Köfferchen und den rollbaren Hühnerkäfig zu holen, danach war sie mitten in der Nacht zum Bahnhof, um den ersten Zug nach Lüneburg zu kriegen, ohne jedes Geld. Fanny hatte vergeblich versucht, sie aufzuhalten, und danach die ganze Nacht auf Hanny gewartet, die einfach nicht kam. Als Hanny um elf Uhr mittags dann endlich quietschfidel und beduselt in die Kammer trat, platzte Fanny vor lauter Sorge und aufgestautem Ärger und schrie sie nicht nur an, sondern biss sie und riss sie am Zopf (den hatte Hanny sich zum Melken wieder geflochten, damit ihr die Haare nicht in den Weg kamen, und die Herrschaften hatten es geliebt, sich daran festzuhalten). Hanny redete sich damit heraus, dass sie es nun mal nicht aushielt, bei Anna Köchel wegen des Kostüms in der Kreide zu stehen. Das immerhin verstand Fanny. Sie meinte sogar, eigentlich hätte es sie ja auch gereizt zu sehen, was man mit einem Kerl so alles anstellen könnte, wenn man mal die Scham beiseiteließ, und hätte die Tilly nicht so geheult, hätte sie auch mitgemacht. Worauf Hanny sagte: »Ja, aber das ist ja wonnebar«, und vorschlug, Fanny solle am andern Wochenende mit ihr und Henni zu Anna Köchels Schönheitsabend kommen, dann wären sie wieder zu dritt, und mit Henni könne man herrlich schweinigeln. Fanny fand es allerdings keine Art, wie die Köchel sie behandelt hatte, und dachte nicht daran, der auch noch Prozente abzugeben, sondern wollte sich auf eigene Faust verkaufen und erwartete von Hanny, dass sie mit von der Partie war. Hanny wiederum gefiel es in Anna Köchels Vorderhaus viel zu gut, und sie zerstritten sich gleich wieder, mit dem Resultat, dass Fanny ihr die Freundschaft kündigte. Und jetzt teilten sie zwar notgedrungen noch das Bett, aber Fanny hatte quer durchs Zimmer mit Kohle einen Strich gezogen, sogar mitten durchs Bett, und bewohnte jetzt die linke und Hanny die rechte Hälfte, und wenn Hanny zur Tür wollte, die in Fannys Hälfte lag, musste sie anklopfen und bitte schön sagen, und das war überhaupt das Einzige, was sie noch redeten.
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