Henni tat das alles furchtbar leid, trotzdem fiel ihr dazu nichts weiter zu sagen ein als: »Nu, nu, das wird schon wieder«, und: »Das Jesulein …«
Leider wurde es überhaupt nicht wieder. Inzwischen hingen an allen Ecken Plakate der Gesundheitsbehörde: »Berlin, halt ein, besinn dich, dein Tänzer ist der Tod!« Dafür hatte die Berliner Regierung das allgemeine Tanzverbot wieder aufgehoben, und Fanny – die sich auch weiterhin so nannte und nach Tillys Abreise mindestens so enthemmt war wie Hanny – rekrutierte ihre Männer auf den öffentlichen Bällen. Dabei holte sie sich gleich den Tripper, angelte sich aber auch einen sogenannten Onkel, älteres Semester, hochspendabel und kauzig, spazierte im sonnigen Mai mit Pelzkragen durch die Kastanienallee und zog denn auch bei Schuster Klapp aus, ohne sich mit Hanny versöhnt zu haben.
Selbst von Henni verabschiedete sie sich nur, weil sie sich zufällig noch einmal über den Weg liefen. »Ick bin dann besser mal weg, bevor meene Olln mich finden«, sagte Fanny schon ganz berlinerisch, und als Henni sich wunderte, dass das nicht längst passiert war, weil Tilly sie doch sicher verpfiffen hatte, lachte Fanny schmutzig und sagte: »Die Minna ist doch zu doof, um sich ne Anschrift zu merken. Außerdem wird sie froh sein, dass sie mit dem einen blauen Auge vom Ziegendieb davongekommen ist, und sich von uns kein zweites holen wollen.«
Tatsächlich hatte Minna sich nie gemerkt, in welcher Straße die Mietskaserne lag, sondern war Berta und Auguste immer nur nachgetrottet, was sich zeigte, als Hanny Landei in Lüneburg anrief. Das war auch wieder Hennis Idee gewesen, denn Hanny war chronisch pleite und inzwischen gehörig verschuldet. Was sie bei Anna Köchel verdiente, wurde gar nicht mehr ausbezahlt, sondern verrechnet, Anita Berbers Frühstücks-Elixier gab es ja nicht gratis, auch nicht für Anna Köchels Mädchen. Beim Schuster Klapp wohnte Hanny noch gegen Naturalien, aber das wollte der sich auch nicht ewig leisten, und Henni schlug ihr vor, von Anna Köchels Fernsprechapparat aus in die Lüneburger Heide zu telefonieren und den Herrn Papa um Unterstützung zu bitten.
»Sag, du hast ne tolle Chance, dich hier zur Herrenschneiderin ausbilden zu lassen, und brauchst die Penunse für eine eigene Nähmaschine. Will er Referenzen, reichst du ihn an mich weiter. Ich erzähl ihm was von Sakkos und Tuxedos und Jägerjoppen und Gabardinejacketts, bis ihm ganz blümerant wird.«
Das tat Hanny Landei. Sie erreichte den Papa in seiner Eisenwarenhandlung, kam aber gar nicht zu Wort (und Henni sowieso nicht), weil er gleich loswetterte, er hätte Hanny, nein, Auguste schon längst am Kragen oder an den Haaren zurück nach Lüneburg geschleppt, hätte er sie nur gefunden. Gleich zu dritt waren sie nach Berlin gereist, Fannys Vater, ihr Bruder und er. Aber Tilly hatte ihnen nur mit auf den Weg geben können, dass die ausbeuterische Hexe Anna Köchel hieß, und die war nicht registriert. Das kam daher, dass »Köchel« ihr Mädchen- und Künstlername war, während die Wohnung und der Fernsprechanschluss noch auf ihren Gatten selig liefen, und der hatte Huber geheißen und war anno 15 an der Italienfront im Gebirgskrieg gefallen.
Nachdem Hannys Vater sich am Telefon ausgetobt hatte, fragte er dann doch noch: »Von wo aus rufst du denn an?«, und Hanny war so blöd zu sagen: »Na, von Anna Köchel, und die ist ganz und gar keine Hexe!«
Worauf ihr Vater rief: »Ha, dann hab ich dich jetzt.«
Denn natürlich fragte er beim Amt an, auf wen der Anschluss registriert war, und tauchte am anderen Morgen bei der Köchel auf, um gehörig Rabatz zu machen.
Hanny hatte sich allerdings nach ihrem Lapsus dünnegemacht, und Henni durfte für sie Anna Köchels ramponierte Wohnungstür bezahlen, weil sie die dumme Idee mit dem Telefonat gehabt hatte.
Henni hatte auch sonst kein glückliches Händchen, wenn es darum ging, anderen zu helfen. Die Heins waren so ein Beispiel. Gleich nach Kriegsende war Professor Hein einer der Männer in Gehrock und Zylinder gewesen, die dachten, sie könnten sich in die neue Zeit retten, indem sie den Kaiser verabschiedeten und die Republik ausriefen. Aber dann hatten die Ereignisse den Guten überrollt, und er verlor erst die »Contenance«, wie die Frau Professor es ausdrückte, dann seine Ämter, und bald verramschten die Heins ihr Familiensilber – unerklärlich viel Familiensilber, bis aufflog, dass die halbe Berliner Unterwelt den Heins ihr Klaugut brachte und die es weiter verhökerten. Professor Hein wurde vor Gericht gestellt und wäre nach Tegel und hinter Gitter gekommen, hätte er es nicht seit dem Kohlrübenwinter 17 arg auf der Lunge gehabt. Weil andere Herren mit Zylinder für ihn bürgten, durfte er seinen Arrest zu Hause absitzen.
Bis dahin war die Geschichte allgemein bekannt, die Zeitungen hatten darüber berichtet, danach sprach es sich rum. Auch Henni erfuhr es so, denn den Dackel der Frau Professor führte sie schon länger nicht mehr Gassi. Das besorgte die inzwischen selber, und fast immer rief Fuhrmann Meisel ihr nach: »Führnse wieder diese spillrige Suppeneinlage spaziern?«, worauf die Frau Professor ihren dünnen, langen Hals reckte und zurückrief: »Der Hund ist ebenso ein Geschöpf Gottes, Herr Meisel, wie Sie und Ihre Pferde.«
Henni kriegte das mit, weil sie Fuhrmann Meisel morgens half, die Pferde zu striegeln, dafür bekam sie dann die Wolle, und Mama Binneweis machte daraus Filzpantoffeln. Dann kam Frau Professor eines Morgens ohne ihre Winnie aus dem Haus, und Fuhrmann Meisel sagte nüscht.
Auch am zweiten Morgen kam sie ohne, diesmal rief Henni ihr nach: »Frau Professor, nun sagen Sie nicht, Winnie ist krank, sie war doch vor zwei Tagen noch so fröhlich.« Worauf die Frau Professor wie angeschossen losheulte.
Und Fuhrmann Meisel feixte: »Wat heißt da krank? Jekocht hat se den Dackel! Hätte icke ja schon längst.«
Worauf die Frau Professor schluchzte: »Nur sind Sie nicht so in Not, Herr Meisel!« Dann rannte sie zurück ins Haus und ging nie mehr durch den Hof nach draußen, sondern immer nur vorne.
Was danach kam, hörte Henni auch wieder nur hintenrum, diesmal von Anna Köchel. Die wiederum hatte es von ihrer Kundschaft – die eben nicht mehr nur die ihre war. Denn offensichtlich waren die Heins, nachdem Winnie gekocht und alles Mobiliar außer einer Matratze, einem Tisch, zwei Stühlen und dem Waschtisch verkauft oder beschlagnahmt war, auf die Idee verfallen, Frau Heins Großnichte aus Rostock herzuholen, ein unverwüstlich fröhliches Ding von vierzehn Jahren mit Schraubenlocken, das Alexandra hieß und Lexi gerufen wurde. Die kam übrigens auch nie in den Hof, sondern saß im Fenster zur Straße raus und machte Faxen, miezte mit den streunenden Katzen, rief den Passanten Komplimente zu und flachste mit ihnen. Währenddessen schaltete Frau Professor allerhand Annoncen, mit denen sie Ausländer oder sonst wie Zugereiste in die Wohnung lockte: Mietangebote, Sprachkurse, Stellen- und Freizeitinserate. Alles auf gehobenem Niveau. Und kamen die Herrschaften dann, sagte sie ganz nebenbei: »Ach, da wir hier gerade so gemütlich plauschen, möchten Sie nicht unsere Nichte tanzen sehen?« Ehe die Herrschaft piep sagen konnte, kam Lexi herein gehüpft, zog sich zwitschernd aus und sprang der Herrschaft auf den Schoß. Die Frau Professor goss derweil Eichelkaffee nach und versprach: »Gegen kleines Entgelt erhalten Sie gern mehr, Herr Soundso, man lebt ja nur einmal, n’est-ce pas? Auch ich habe einiges zu bieten, mein Mann ist ebenfalls nicht ohne. Wenn Sie also möchten, tummeln wir uns alle viere nackt, wie Gott uns schuf, ein Weilchen auf dem Plumeau.«
Anna Köchel fand das zum Totlachen, Henni dagegen wurde ganz traurig, weil sie die Frau Professor gern mochte und sich vorstellen konnte, wie es dabei in ihr drinnen aussah.
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