KAMERUN IST EINE KOKOSNUSS. Wer die Frucht genießen will, muss die Schale sprengen. Und das geht nun einmal nur mit Gewalt. Zumal die Duala kein Entgegenkommen zeigen und ihr Handelsmonopol hartnäckig verteidigen. Sie kaufen europäische Produkte in den Faktoreien von Woermann, Jantzen & Thormählen oder der englischen Händler auf Kredit und bezahlen mit Kautschuk, Palmöl oder Elfenbein, das sie von anderen Stämmen im Landesinnern beziehen, die häufig ihrerseits nur Zwischenhändler sind, ebenfalls für ihr Gebiet auf ihrem Monopol bestehen und den Durchzug von Handelskarawanen mit allen Mitteln verhindern. Weil die ins Inland führenden Flüsse für größere Schiffe unpassierbar sind und der Urwald, der gleich hinter dem Küstenstreifen beginnt, für Karawanen ohne kundige Führung undurchdringlich ist, haben die Agenten von Woermann und Jantzen & Thormählen ein Problem. Aber schon bald haben sie auch eine Idee. Sie erhöhen die Preise für die europäischen Waren und setzen die der Landesprodukte herab. Um das durchzusetzen, verabreden sie mit den englischen Händlern eine gemeinsame Handelssperre. Die Duala antworten mit einer Gegensperre und stellen den Verkauf von Lebensmitteln, Trinkwasser und Feuerholz ein. Eine Pattsituation, die zum Vorteil der Deutschen aufzulösen Julius von Soden, dem ersten deutschen Gouverneur in Kamerun, trickreich gelingt. Soden, von Kaiser Wilhelm I. persönlich im März 1885 zum Gouverneur ernannt, ist Jurist und ein erfahrener Diplomat, zuletzt war er in Sankt Petersburg im Einsatz. Sein Plan benachteiligt zwar die Duala, aber weil die deutschen Agenten – wie vom Gouverneur gewünscht – lauthals zum Schein protestieren, wähnen die Duala sich als Gewinner. Soden meldet nach Berlin: »Ohne diese Komödie wäre es mir nicht gelungen, die Eingeborenen zur Nachgiebigkeit zu bewegen.«
Die Duala versuchen, die niedrigen Preise an ihre Handelspartner im Landesinnern weiterzugeben, stoßen jedoch auf Widerstand. Als Häuptling Money in Bimbia den Deutschen zudem die Gefolgschaft verweigert, schickt der Gouverneur das Kanonenboot Cyclop. Bimbia wird niedergebrannt, Money abgesetzt und ein neuer Oberhäuptling ernannt, der den gouverneurtreuen King Bell als Oberherrn anerkennt. Den Abo und Wuri, die ebenfalls »fortgesetzte[n] offene[n] Ungehorsam« an den Tag legen, ergeht es nicht besser. Auf Befehl von Sodens Stellvertreter, Jesko von Puttkamer, beschießt das Kanonenboot ihr Dorf Banambasi eine Stunde lang, bevor es vom Landungskorps »in Brand gesteckt und vernichtet« wird; einen Tag später wird ein zweites Dorf niedergemacht. Das sind nicht nur erste Erfolge der deutschen Kolonialverwaltung und der deutsch-kamerunischen Handelsbeziehungen. Auch der deutsche Wortschatz profitiert. Der Euphemismus »Strafexpedition« – zutreffend wäre Feldzug oder Überfall – wird zu einem der bedeutsamsten Substantive der deutschen Kolonialpolitik.
Der Zwischenhandel aber ist damit noch nicht ausgeschaltet, noch reicht die Macht des Gouverneurs nicht weiter als ein Geschützrohr des Kanonenboots. Und nicht nur die deutschen Händler fordern unermüdlich, »den Zwischenhandel der Eingeborenen militärisch wegzumanövrieren«. Auch die Gesellschaft für deutsche Kolonisation (GfdK) propagiert eine expansive Kolonialpolitik. Mit ihrem Präsidenten Carl Peters, dem Gründer Deutsch-Ostafrikas, einem fanatischen Rassisten, hat sie einen angemessenen Repräsentanten. Seine Verbrechen – unter anderem lässt er seine schwarze Konkubine und seinen Diener, die ein Verhältnis miteinander hatten, aufhängen und ihre Heimatdörfer niederbrennen – werden ihm später in Afrika den Rufnamen mkono wa damu (»blutige Hand«) eintragen, in Deutschland wird er als »Hänge-Peters« berüchtigt. In Blättern wie der Kölner Zeitung finden die Forderungen den gewünschten Widerhall: Mit einer »kleinen Schutztruppe ließe sich der ganze Widerstand der Duala brechen, der die Entwicklung unserer wertvollsten Kolonie in Fesseln schlägt.« Der Vertrag mit den Duala, heißt es in einer Denkschrift aus dem Handelshaus Jantzen & Thormälen, sei ohne Bedeutung, und die Deutschen seien nicht nur berechtigt, sich darüber hinwegzusetzen, sondern sogar verpflichtet: »Unsere Stellung zu den Dualas muß eine völlig andere werden. […] Es widerstreitet also dem Grundgedanken der Schutzverträge nicht, wenn wir als Heilmittel der traurigen Lage der Dinge in Kamerun das gewaltsame Durchbrechen des Zwischenhandels der Dualas und ihre durch moralische und physische Machtmittel durchgeführte Erziehung zur Arbeit hinstellen. Der durchzuführende Plan würde etwa folgender sein: Man errichte eine Schutztruppe«. Die Truppe würde Stationen aufbauen, um die Handelswege freizuhalten. »Sobald diese Organisation in die Wege geleitet, wird sich dem Handel ein ganz ungeahnt großes neues Gebiet erschließen.« Mit anderen Worten: Die Handelswege sollen freigeschossen werden.
Noch ist Berlin dazu nicht bereit. Insbesondere der Reichstag zögert, Geld für die militärische Eroberung der Kolonie bereitzustellen. Und auch Gouverneur von Soden – er beschäftigt sich zeit seines Lebens mit Dante und Homer und fühlt sich von Immanuel Kant inspiriert – möchte vor dem Handelsnetz, das die deutschen Kaufleute in ihren hochfliegenden Plänen bereits über ganz Kamerun spannen, lieber zunächst ein Netz von Schulen über Küste und Urwald legen, Missions-, aber auch Regierungsschulen. Und so betritt nach ruhiger Fahrt an Bord der Ella Woermann im Januar 1887 Theodor Christaller, seit wenigen Tagen 24 Jahre alt, als erster deutscher Reichsschullehrer in Kamerun den Boden Dualas. Als Sohn eines Missionars der Basler Mission hatte Christaller selbst einige Jahre im Basler Stammhaus unterrichtet, bis er wenige Monate zuvor von einem Stuttgarter Prälaten gefragt wurde, ob er die Stelle in Kamerun im Dienst der Reichsregierung antreten wolle. Sein erster Gedanke war »Afrika – ein Todesland!«, kein abwegiger Gedanke, denn nicht nur ein Inspektor der Mission war erst vor kurzem an der afrikanischen Westküste an Malaria gestorben, auch Christallers Mutter war dort von der Krankheit hinweggerafft worden, sein Vater schwer krank nach Deutschland zurückgekehrt. Schließlich aber hatte der junge Mann eingewilligt, erfüllt – wie sein Schwager nach Christallers Tod in einer Lebensbeschreibung beteuerte – »von dem hohen Ziel, deutsche Bildung und Sitte, deutsche Sprache und Glauben in den dunklen Erdteil hinauszutragen, bereit, für dieses hohe Ziel Bequemlichkeit, Gesundheit, ja, wenn es sein soll, das Leben zu opfern.« Tatsächlich wird Christaller neun Jahre später an Schwarzwasserfieber sterben.
Doch jetzt, im Januar 1887, benötigt der junge Reichsschullehrer erst einmal eine Unterkunft. Und siehe da, in der Basler Mission ist soeben ein Zimmer frei geworden: Ein Missionar und Freund Christallers ist an Malaria gestorben. Im Übrigen aber ist nichts für den jungen Lehrer vorbereitet, kein dauerhaftes Quartier und erst recht keine Schule, und so unterrichtet Christaller anfangs in einer verfallenen Hütte aus Palmrippen und Matten. Unter seinen Schülern sind sieben Söhne King Bells (sieben von siebzig, wie Christaller vermutet) und mindestens ein Enkel: Manga Bell. Christaller, der während der Schiffsreise Duala gelernt hat, zögert nicht, die Kinder mit dem Kernbestand deutscher Kultur bekannt zu machen. Als ein deutscher Offizier eines Tages den Unterricht besucht, singen die Kinder »mit ungeheurer Begeisterung«, wie Christaller bemerkt, zuerst »Lobe den Herren, o meine Seele«. Danach fragt der Lehrer die muntere Schar: »Was wollt ihr singen?« Und wie aus einem Munde erwidern die jung-deutschen Duala: »Ich hatt’ einen Kameraden!« Der kleine Manga Bell singt sicherlich mit. Denn erstens zahlt sein Großvater Schulgeld – er wird auch das hölzerne Fertighaus bezahlen, das Christaller als Schulgebäude in Deutschland bestellt hat –, und zweitens empfiehlt es sich, den Lehrer nicht zu verärgern. Vor allem für enttäuschtes Vertrauen pflegt sich der Schulmeister nachhaltig zu revanchieren. Das bekommt der kleine Konrad zu spüren, den er als Hausjungen zu sich genommen hat. Als er ihn beim Diebstahl erwischt, schleppt Christaller ihn ins Gericht, wo Konrad zu fünfzehn Hieben mit der Nilpferdpeitsche verurteilt wird, danach persönlich ins Gefängnis, wo der Junge gefesselt und derart geprügelt wird, dass ihm »die Haut in Fetzen vom Leibe flog«. Aber er kann unmöglich mehr gelitten haben als sein Lehrer: »Ich hatte ihn so sehr geliebt, geliebt, wie ein deutsches Herz nur lieben kann, und nun ist’s aus.« An Kaisers Geburtstag holt Christaller den Jungen aus dem Gefängnis, nimmt ihn wieder bei sich auf und verspürt das gute Gefühl, verzeihen zu können und nach drei Wochen zum ersten Mal wieder »ausgezeichnet zu schlafen, weil Konrad neben mir auf dem Boden schlief, zwar noch blutig, aber doch neben mir«.
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