Der Angreifer half seinem Partner auf die Beine und in den Transporter, schloss die Tür und trat aufs Gas. Die Reifen drehten kreischend durch, bis sie schließlich Haftung fanden.
Shari rappelte sich auf. Ihre Nase und Mundwinkel waren blutig. Sie schrie dem sich entfernenden Transporter so laut und schrill hinterher, dass es sich fast wie das Kreischen einer Todesfee anhörte.
Nachdem der Transporter hinter einer Häuserecke verschwunden war, ließ sie entmutigt ihre Hand sinken. Ihr Rücken schmerzte von ihrem Aufprall, doch viel schlimmer war der unbeschreibliche Schmerz des Verlustes, den sie als Mutter empfand.
Ihre beiden Lieblinge waren entführt worden.
Während Tolimir die Straße entlanglief, klingelte sein Handy. »Ja?«
»Wir haben das Paket.«
»Irgendwelche Schwierigkeiten?«
»Nichts, womit wir nicht fertig geworden wären.«
Das war alles, was Tolimir hören wollte. Er klappte sein Telefon zu und steckte es zurück in seine Tasche.
Am Ende der Straße wartete eine Limousine auf ihn. Er öffnete eine Tür und setzte sich auf die Rückbank. Die beiden Personen im vorderen Teil zeigten keinerlei Regung.
»Das Paket ist in unseren Besitz übergegangen«, erklärte Tolimir, »also wickelt die Sache entsprechend ab. Wenn Ihr euch um alles gekümmert habt, gebt mir Bescheid, dann werdet ihr wie gewohnt bezahlt.«
Fahrer und Beifahrer schwiegen, bewegten sich nicht einmal.
»Wie lange wird es dauern?«
Der Fahrer zögerte einen Moment, als müsste er darüber nachdenken, dann antwortete er: »Zwei, vielleicht drei Stunden.«
Tolimir nickte. »Ruft mich an, wenn alles erledigt ist.« Er lehnte sich zurück. »Und jetzt fahr los«, wies er den Mann an. »Bring mich zum Place de Varsovie.«
Keiner der beiden Männer sprach ein Wort, während sich der Wagen langsam in den Verkehr einfädelte und nach Norden fuhr.
Keiner der Männer hatte eine Ahnung, dass sie von einer Überwachungskamera gefilmt worden waren.
Der Verhörraum war klein, schäbig und spartanisch eingerichtet. Von den Wänden blätterte die khakifarbene und mattweiße Farbe ab. Knapp unter dem Dach war ein kleines, mit Maschendraht verkleidetes Fenster eingelassen. Sowohl der Tisch als auch die Stühle wackelten bereits erheblich.
Ein Lieutenant mit drei Tassen Kaffee in den Händen betrat den Raum und verteilte sie auf dem Tisch: Einer für Shari, die ihn weder anrührte, noch überhaupt zur Kenntnis nahm; einer für Gary, der es Shari gleich tat, und einer für sich selbst.
Der Mann war eher hager zu nennen, mit dünnen, zerbrechlich wirkenden Gliedmaßen, Geheimratsecken und einem Schnurrbart, der über eine offensichtliche Hasenscharte wuchs. Seine Augen hingegen waren flaschengrün und funkelten in ehrlicher Anteilnahme. Wenn er sprach, tat er das mit einem singenden französischen Akzent, vermischt mit englischen Worten. Die Art, wie er sprach, hatte etwas beinahe Poetisches an sich – sanft und liebenswürdig.
»Madame Cohen, Monsieur Molin, mein Name ist Lieutenant D’Aubigne. Ich möchte, dass Sie wissen, wie leid es mir tut, was mit Ihren Töchtern geschehen ist.«
Sharis Augen waren von den vielen Tränen gerötet. Gary hatte sie so noch nie zuvor erlebt. Das war eine Seite an ihr, die ihm bislang völlig fremd gewesen war. Sie war stets unerschütterlich gewesen, was ihre Emotionen anbelangte, und behielt selbst in schwierigsten Situationen die Fassung. Aber das war etwas anderes. Das war persönlich.
»Wie viele waren es?«
»Vier«, antwortete sie.
»Und das Fahrzeug?«
»Ein schwarzer Transporter«, erklärte Gary. »Speziell dafür präpariert. Keine Fenster. Keine Radkappen. Keine erkennbaren Dellen oder so. Aber das haben wir Ihnen schon alles erzählt. Wieso sind Sie nicht da draußen und suchen nach unseren Mädchen?«
»Das sind wir«, sagte D’Aubigne. »Aber manchmal wiederholen wir die Fragen, denn mit der Zeit, und wenn sich die Opfer etwas beruhigt haben, fallen ihnen wieder Dinge ein, die sie beim ersten Mal vergessen hatten. Oftmals Dinge, die uns bei unserer Suche helfen können.« D’Aubigne setzte sich. »Wie ich hörte, arbeiten Sie für die Polizei, Madame Cohen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das FBI.«
D’Aubigne schien beeindruckt. »Und Sie, Monsieur Molin?«
»Ich war bei der Regierung angestellt.«
»Ich verstehe.«
»Was genau werden Sie unternehmen, um unsere Töchter zu finden?«, fragte Gary aufbrausend.
Der Lieutenant hob abwehrend die Hände. »Glauben Sie mir, Monsieur Molin, wir haben alle verfügbaren Kräfte mobilisiert. Ich weiß, dass es hart für Sie sein muss. Aber in Fällen wie diesen muss man geduldig sein.«
»In Fällen wie diesen? Heißt das, es ist hier an der Tagesordnung, dass Menschen von der Straße gekidnappt werden?«
»Monsieur Molin, ich weiß, wie schwierig es …«
»Haben Sie Kinder, Lieutenant?«
»Vier.«
»Sind sie zuhause?«
»Zwei von ihnen. Die anderen beiden sind in der Schule.«
»Dann geht es ihnen also gut? Keine Probleme?« Gary wollte ihn aus der Reserve locken, das war D’Aubigne klar. Er konnte es daran erkennen, wie der Mann auf seiner Oberlippe herumnagte, als müsse er sich im Zaum halten. Er war wütend und suchte nach einem Ventil.
Also antwortete D’Aubigne in ruhigem und gleichmäßigen, beinahe unbeeindruckten Tonfall: »Es gibt keine Probleme.«
»Dann wissen Sie nicht , wie schwierig es für uns ist, bevor Sie nicht das Gleiche durchmachen mussten wie meine Frau und ich.«
»Ja, natürlich, Monsieur, Sie haben recht. Aber als Vater kann ich Ihnen versichern, wie sehr es mir für Sie leidtut. Die meisten Väter würden so empfinden. Ich tue mein Möglichstes, zu Ihnen durchzudringen und die Dinge in Ordnung zu bringen. Wir geben unser Bestes.«
Shari legte ihre Hände um die des Lieutenants. »Danke«, sagte sie. Mit dem Ärmel wischte sie sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
»Vertrauen Sie mir, Madame, wir tun alles, was in unserer Macht steht. Unglücklicherweise gibt es außer Ihnen keine weiteren Zeugen. Und Paris ist eine sehr große Stadt.«
Sie ließ den Kopf sinken und schluchzte. Gary legte einen Arm um sie.
»Wie geht es für gewöhnlich weiter?«, erkundigte sich Gary. »Werden Sie im Hotel anrufen und Lösegeldforderungen stellen?«
Lieutenant D’Aubigne sah zu einer Kamera in der oberen Ecke des Raumes hinauf und machte eine Geste, als würde er jemanden hereinbitten. »Monsieur Molin, Madame Cohen, ich denke, Sie sollten etwas wissen. Etwas, dass Sie wahrscheinlich nicht gern hören werden.«
Die Tür öffnete sich und zwei Männer betraten den Raum, die einander auf frappierende Weise ähnlichsahen. Sie waren elegant gekleidet, trugen die gleichen schwarzen Anzüge und roten Krawatten, und jeder von ihnen besaß den gleichen seltsam wächsernen Gesichtsausdruck und einen identischen konservativen Haarschnitt. Zuerst unterhielten sie sich mit D’Aubigne auf Französisch, der ihnen einen kurzen Abriss über die bisherige Unterhaltung gab. Als er damit fertig war, erhob er sich mit gesenktem Kopf. »Madame Cohen und Monsieur Molin«, begann er und deutete auf die beiden Männer, »diese werten Herren hier werden von jetzt an übernehmen. Lassen Sie mich Ihnen noch einmal versichern, dass ich aufrichtig bedauere, was Ihnen widerfahren ist, und das wir alles Menschenmögliche tun werden, um Ihre Kinder wiederzufinden.« Mit diesen Worten verließ D’Aubigne den Raum und die beiden Männer nahmen an seiner Stelle auf zwei leeren Stühlen Platz.
Einer von ihnen reichte Gary die Hand, die dieser ergriff. Der andere Mann verharrte regungslos.
»Monsieur Molin und Madame Cohen, auch wir möchten uns bei Ihnen entschuldigen. Wir fahnden bereits nach dem Transporter, während wir hier miteinander sprechen«, sagte der Mann, der bisher auffallend ruhig gewesen war. »Ich bin Inspektor Beauchamp, und das hier ist Inspektor Reinard. Wir sind von der Direction Centrale de la Police Judiciaire.«
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