Die Serben, die Anstoß an Kroatiens Unabhängigkeitsbemühungen nahmen, hatten ihren politischen Gegner in einem brutalen ersten Schritt hin zu einem Bürgerkrieg angegriffen – etwas, das Jadrans Vater bereits geahnt hatte. Doch der Mann hatte geglaubt, oder glauben wollen, dass die politischen Kräfte die Uneinigkeiten friedlich beilegen würden.
Siebenundachtzig Tage lang wurde die barocke Stadt belagert und fiel schließlich den Serben und paramilitärischen Kräften in die Hände, welche die tapfere Verteidigungsarmee der Kroatischen Nationalgarde schlussendlich besiegten. Die Stadt wurde zerstört, das Anwesen der Božanovićs in Schutt und Asche gelegt.
Die sogenannten Ethnischen Säuberungen wurden in jenen Tagen zu einem vielbemühten Begriff, und so sah die internationale Staatengemeinschaft dabei zu, wie serbische Truppen unter Slobodan Milošević systematisch mehr als 31.000 Menschen in dieser Stadt abschlachten oder deportieren ließen.
Als Božanović mit ansehen musste, wie sein bisheriges Leben ebenso schnell in sich zusammenfiel wie die Mauern seines Zuhauses, verlor er beinahe augenblicklich seine egozentrische Weltsicht. Sofort bewaffnete er sich und ein paar seiner Freunde, angestachelt von der ungeheuren Wut eines Heranwachsenden, dessen Leben sich in dunkles Leid verkehrt hatte. Als er das erste Mal das antiquierte Gewehr in seinen Händen hielt, spürte er eine unsagbare Macht. Die Waffe gab ihm die Möglichkeit, jedes Leben mit nur einem Fingerzucken auszulöschen. Er fühlte sich ermutigt, voller Ekstase über den Umstand, dass er nun wieder das Zentrum des Universums war; ein Mann, der über die Macht verfügte, zu entscheiden, wer leben durfte und wer sterben musste. Wer immer seinen Weg kreuzen würde, tat das auf Befehl einer höheren Macht hin, so schien es ihm. Und er war ein Gefäß, geschaffen um zu befehlen und zu herrschen.
Gefangene wurden ihm zu Füßen gelegt, und der Akt allein ließ Božanović sich allmächtig und unfehlbar fühlen. Immer wieder legte er den Lauf seiner Waffe an die Schädel von Serben und drückte ab, spürte keinerlei Schuld dabei, und sein Handeln wurde beinahe zu einem Akt der Läuterung, wenn er sich wieder aufrichtete und dabei zusah, wie seine Opfer vor ihm verbluteten.
Zusammen mit seinem Teamkameraden lebte er in Schmutz und Elend und stieg zu ihrem Anführer auf, während sie sich mutig den zahlenmäßig weit überlegenen Einheiten der Jugoslawischen Nationalarmee entgegenstellten. Doch am dreiundsiebzigsten Tag wurde seine Einheit umzingelt. Božanović fand sich selbst auf Knien vor einem serbischen Offizier wieder, in dessen Hand der glattpolierte Lauf einer Pistole glänzte.
Sie starrten einander an. Keiner von beiden wollte den Blick abwenden, als Zeichen ihres eisernen Willens.
Der Serbe steckte seine Pistole in ihr Holster zurück und zog sein Messer hervor, eine gefährlich scharf aussehende Waffe, die ebenso glänzte wie zuvor die Pistole. Er hielt die Klinge demonstrativ in die Luft, ohne den Blick von seinem Gegner abzuwenden.
Dieses Messer hat viele von deiner Art getötet, ließ er Božanović wissen und drehte das Messer dabei hin und her. Und es wird noch mehr töten.
Der Serbe legte dem jungen Kroaten die Klinge ans Gesicht, bis die Spitze Božanovićs Haut eindrückte, direkt unterhalb seines Auges. Božanović weigerte sich, den Augenkontakt zu unterbrechen, etwas, dass der Serbe bewunderte, jedoch nicht zu honorieren gedachte. Deshalb übte er genug Druck auf das Messer aus, um die Haut zu verletzen und einen Blutstropfen hervorquellen zu lassen.
Božanović zuckte zusammen, was den Serben lächeln ließ.
Ich werde dich umbringen, weißt du? Dich und deine gesamte Familie.
Božanovićs Familie aber war bereits von den serbischen Angreifern aus dem Haus gezerrt und auf den Straßen abgeschlachtet worden. Danach hatte man das Haus in Brand gesetzt. Obwohl Božanović entkommen war, konnte er sich noch gut daran erinnern, wie jene Serben seine Mutter, seinen Vater, seinen Bruder und seine Schwester mit einem derart bösartigen Vergnügen hingerichtet hatten, dass er sich beinahe sicher war, dass sie danach zur Feier ihr Blut aus juwelenbesetzten Kelchen tranken – eine unglaubliche Vorstellung, die unauslöschlich in seiner Erinnerung eingebrannt war.
Zorn hatte ihn verschlungen.
Hass ihn erfüllt.
Und das Morden gab ihm Hoffnung, auch wenn es eine dunkle Hoffnung war, die ihn auf einen Pfad führte, von dem es kein Zurück geben würde.
Und wenn ich sie umgebracht habe, werde ich dich töten, einverstanden? Der Serbe begann die Spitze seines Messers vorsichtig über Božanovićs Gesicht gleiten zu lassen.
Božanović ertrug den Spott nicht länger, wendete er sich ab und spie auf den Boden. Ein Akt unvergleichlichen Mutes und Trotzes – oder der Dummheit, je nachdem, von welcher Seite aus man es betrachtete. Für seine Brüder wurde er in diesem Moment zu einem Gott. Für die Serben aber schrie es danach, Jadran Božanovićs Leben zu beenden.
Der Serbe packte Božanović an den Haaren und zerrte dessen Kopf zurück, um seine glatte und ungeschützte Kehle zu entblößen. Du hältst dich wohl für mutig? , fauchte ihn der Serbe wütend an, während sein Gesicht rot anlief. Glaubst du vielleicht, dass dich deine Freunde jetzt mit anderen Augen sehen? Er musterte die Gesichter der restlichen Kroaten und musste die Bewunderung für Božanović in ihren Augen bemerkt haben. Du und die anderen seid nichts anderes als Dreck unter meinen Stiefeln!
Mit der Spitze seines Messers trieb er eine tiefe Kerbe in Božanovićs Gesicht, vom unteren Ende seines Auges bis hinab zu seinem Mundwinkel, öffnete eine Wunde, die genug Haut auseinanderklaffen ließ, um den blutigen Wangenknochen darunter zu offenbaren.
Božanović schrie vor Schmerz laut auf, seine Tapferkeit war verschwunden. Als der Serbe erneut die Gesichter seiner Kameraden betrachtete, war das aufflackernde Bewundern in ihren Augen dem Blick puren Schreckens gewichen.
Der Serbe hatte wieder die Oberhand gewonnen.
Er lächelte. Ein weiterer kleiner Sieg. Er hob die blutrote Klinge vor sein Gesicht.
In einer makabren und kranken Zurschaustellung leckte der Serbe die Messerspitze ab und verzog dabei das Gesicht, als würde er den Geschmack genießen. Und jetzt, Kroate, sagte der Mann, ist es an der Zeit, zu sterben.
Božanović schloss die Augen und wartete.
Dann hörte er eine laute Gewehrsalve. Mehrere Schüsse peitschten in kurzer Folge durch die Luft. Der Geruch von Schießpulver war allgegenwärtig, als Božanović seine Augen wieder öffnete und einen Trupp Kroaten mit gezückten Waffen vorrücken sah. Die serbischen Soldaten waren entweder tot oder lagen auf dem aufgebrochenen Straßenpflaster im Sterben.
Božanović zögerte keine Sekunde. Er stand auf, schnappte sich eine Waffe und exekutierte nacheinander alle, die noch am Leben waren, mit Ausnahme des serbischen Anführers, der mit einer Hüftwunde am Boden lag und vor Schmerzen die Zähne zusammenbiss.
Božanović griff nach dessen Messer und hielt es dem Serben auf die gleiche Weise vors Gesicht, wie dieser es zuvor bei ihm getan hatte. Er zeigte ihm die glänzende Spitze und die scharf zulaufende Klinge des Messers.
Glaubst du, du wüsstest, was Schmerzen sind? , fragte er den Serben, dann trat er dem Mann gegen dessen Verletzung. Der Serbe schrie. Ich werde dir zeigen, was Schmerzen sind.
Der junge Kroate hockte sich auf den Boden und begann mit dem Messer den Stoff der Uniformhose des Serben zu zerschneiden und seine Beine offenzulegen. Dann wies Božanović seine Männer mit einer Handbewegung an, den Offizier am Boden festzuhalten. Jeder der Männer sollte sich einen Arm oder ein Bein greifen, damit der Soldat sich nicht mehr bewegen konnte.
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