Tomo trug eine Mütze mit steifem Schirm, die an einen Zeitungsjungen erinnerte, und um den Hals einen Kaschmirschal, dessen Enden über eine altmodische Motorradjacke hingen. Sie bestand wie die von John Scott aus Leder, wirkte aber irgendwie weitaus weniger prahlerisch.
»Wer ist heiß?«, fragte plötzlich Mel. Als ich mich zu ihr umdrehte, regte sie sich. Sie richtete sich auf, blinzelte und rieb sich gähnend die Augen. Sie waren leuchtend blau. Ihre blonden Haare waren im Moment zerzaust und standen in alle Richtungen ab. Nach der Party am Abend zuvor hatte sie sich nicht abgeschminkt. Ihre rechte Gesichtshälfte war rot, nachdem sie damit so viele Stunden auf ihren Armen gelegen hatte.
»Hey«, begrüßte ich sie, indem ich mich zwischen den Sitzen nach hinten lehnte und sie auf die Wange küsste.
»Danke«, sagte sie und strahlte. Mel bedankte sich jedes Mal, wenn ich ihr einen Kuss gab. Man könnte ihr unterstellen, dies sei spöttisch gemeint oder gar zickig, aber diese beiden Eigenschaften waren ihr vollkommen fremd. Ich denke, ihr gefiel ganz einfach, dass ich ihr meine Zuneigung so oft zeigte. Ich fühlte mich geschmeichelt, weil sie so empfand. Mir sind schon Paare untergekommen, die sich nicht mehr ausstehen konnten, nachdem sie sich ein halbes Jahr regelmäßig gesehen hatten. Die Tatsache, dass Mel und ich dauerhaft so gut miteinander auskamen, erachtete ich als Beleg dafür, dass wir perfekt zusammenpassten.
»Sind wir schon da?«, fragte sie.
»Fast«, antwortete ich. »Wir sind momentan in einer Kleinstadt am Fuß des Fujis. Es gibt da aber leider ein kleines Problem.«
»Klar, wie sollte es auch anders sein.«
»Es soll Regen geben. Sieht also so aus, als könnten wir heute nicht wandern.«
»Gut, dann hab ich wenigstens Zeit, mich auszuschlafen.« Sie ließ sich wieder auf die Sitzfläche fallen und schloss die Augen. »Weckt mich, wenn wir wieder in Tokio sind.«
»Eigentlich haben wir vorhin zwei Ausländer kennengelernt, die heute ebenfalls hinaufsteigen wollten und jetzt stattdessen in einem Wald in der Nähe zelten. Wir haben beschlossen, dass wir mitmachen!«
Mel öffnete ein Auge und schaute mich an wie eine Piratin. »Wie weit ist es denn bis dorthin?«
»Das weiß ich nicht, aber der Wald muss irgendwo ganz in der Nähe sein.«
Sie überlegte einen Moment lang. »Okay.«
»Echt?«
»Warum denn nicht? Wenn wir doch ohnehin so gut wie dort sind …«
»Da wäre nur noch ein winziger Haken.«
»Und welcher?«
»Der Wald heißt Aoki… « Ich suchte Tomos Blick.
»Aokigahara.«
»Na und?«, fragte Mel.
»Das bedeutet übersetzt, Selbstmordwald«, erklärte ich ihr, »denn dorthin verschwinden anscheinend jedes Jahr viele Japaner, um sich das Leben zu nehmen.«
Sie runzelte die Stirn.
»Ich bin mir allerdings sicher, dass dahinter nur viel heiße Luft steckt«, schob ich schnell hinterher. »Wahrscheinlich haben sich mit der Zeit ein paar Leute dort umgebracht, woraus sich dann eben ein schlechter Ruf …«
»Nein, ich habe auch schon mal etwas davon gehört«, unterbrach sie ihn und setzte sich wieder auf. Sie strich sich die Haare hinter die Ohren, sodass ich ihren schlanken Hals sah, dann nahm sie ein Gummiband von einem ihrer Handgelenke und band sie zu einem Pferdeschwanz. Die Smaragde der Ohrstecker, die ich ihr im Juni zu Geburtstag geschenkt hatte, funkelten jetzt.
»Wir brauchen ja nicht weit hinein… «
»Du brauchst mich nicht zu behüten wie ein Kleinkind, Ethan. Ich habe gar keine Angst. Außerdem würde ich ihn gerne selbst sehen.«
Ich nickte und war froh, dass ich sie ohne Probleme hatte überzeugen können.
Nun wandte ich mich wieder Tomo zu. »Was ist jetzt, T-Man? Bist du auch dabei?« Ich wartete gespannt auf seine Antwort. Da Honda ausschied, blieb uns nur noch sein Wagen.
»Ja, gut«, sagte er schließlich und ließ seine fiese Kauleiste aufblitzen. »Mal sehen, ob wir ein paar verdammte Geister finden, was?«
Bevor wir zum Aokigahara aufbrachen, suchten wir erst einmal die Toiletten des Bahnhofs auf und kauften uns in einem Minimarkt mehr Snacks, nun da wir uns keine Gedanken mehr um schweres Gepäck machen mussten. Ich ging noch kurz zum Kartenschalter, weil ich mir eine Karte der Gegend besorgen wollte. Dort begrüßte mich freundlich eine uniformierte Frau. Kaum dass ich den Wald erwähnte, kniff sie jedoch die Augen zusammen und hörte auf zu lächeln. Sie betrachtete mich misstrauisch, vielleicht um hinter meine Absichten zu kommen. Sie dachte ja, dass ich alleine hier sei, und musste sich nun anhören, dass ich einen Ort aufsuchen wollte, wo sich angehende Selbstmörder ihren innigsten Wunsch erfüllten. Ich wusste allerdings nicht, wie ich ihr begreiflich machen könnte, dass ich mit Freunden da war und wir als Gruppe einfach nur einen Eindruck vom Aokigahara gewinnen wollten. Also benahm ich mich ganz arglos, um ihr jegliche Bedenken zu nehmen, die sie vielleicht hatte. Das funktionierte anscheinend, denn sie gab mir nun eine Karte, allerdings spürte ich trotzdem noch, wie ihre Augen auf mir ruhten, als ich fortging.
Draußen waren nun alle in die beiden Wagen gestiegen. Ich zwängte mich mit in den Subaru, und los ging die Fahrt.
Tomo drehte die Musikanlage laut auf und rappte den Text irgendeiner japanischen Hip-Hop-Truppe mit. Die Passagen in seiner Landessprache kannte er auswendig, wohingegen er während der englischen nur im Rhythmus auf das Lenkrad trommelte und einzelne Wörter bellte, die er verstand, wie »Nigger« oder »Bitch«.
Als ich Tomo vor mehr als acht Monaten kennengelernt hatte, war er bei mir schnell in der Schublade sex- und musikbegeisterter Partylöwe gelandet, doch nach einem gemeinsamen Tag mit ihm und seiner jüngeren Schwester, einer Autistin, hatte ich erkannt, dass er auch über eine überraschend liebevolle und fürsorgliche Seite verfügte, obwohl er das natürlich nie zugegeben hätte. Deshalb zog ich ihn oft damit auf.
Jetzt wechselte er die CD, krähte »Dieser Nigger ist scheiße, Mann!«, und begann kurze Zeit später, irgendeinen frauenfeindlichen Text zu stottern.
Ich bemühte mich, ihn auszublenden, und schlug stattdessen die Landkarte der Verkäuferin vom Fahrkartenschalter auf. Ein Dreieckssymbol stand für den Fuji. Eingezeichnet waren sowohl Bus- und Bahnstrecken sowie Schnellstraßen, alle in einer jeweils anderen Farbe. Die fünf Seen in der Region hatte man genauso wie die anderen Sehenswürdigkeiten für Touristen sowohl auf Englisch als auch auf Japanisch beschriftet. Am Rand war das Gebiet rund um den See Saiko vergrößert worden, dessen Name wie »Psycho« auf Englisch ausgesprochen angegeben wurde. Diese Karte zeigte auch mehrere Wanderwege zwischen bestimmten Lavahöhlen, die im Zuge des letzten Ausbruchs des Fujis entstanden waren.
Aokigahara, der sich ganz in der Nähe befand, war bemerkenswerterweise nicht eingetragen.
Ich warf die Karte deshalb auf das geschmacklos mit Teppich überzogene Armaturenbrett und versuchte mir vorzustellen, was wir nun erleben würden. Wie viele Menschen begingen dort jährlich Suizid? Ein Dutzend? Mehr als zwanzig? Würden wir vielleicht halb im Laub verborgen einen Schädel finden? Oder eine Leiche, die an einem Baum hing? Bei dem letzten Gedanken – also den mit der Leiche, nicht mit dem Schädel – musste ich kurz innehalten. War ich wirklich darauf gefasst, so etwas dermaßen Abgründiges zu sehen?
Schlagartig kam mir mein älterer Bruder Gary in seinem glänzend hellbraunen Sarg in den Sinn, die Haare gewaschen und gekämmt mit Watte in den Ohren und der Nase. Seine Lippen waren mit Wachs verschlossen gewesen, die Augen verklebt und die Schminke in seinem Gesicht viel zu dick aufgetragen und hart geworden. Die rote Krawatte hatten sie ihm sorgfältig um den Hals geknotet.
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