»Ich heiße Benjamin, aber nennt mich doch einfach Ben«, schob der Israeli nun hinterher. »Das hier ist Nina.«
Ich stellte nun mich und die anderen vor.
»Also, was tut ihr zwei jetzt?«, fragte John Scott, obwohl er bei der Frage vor allem Nina anschaute.
»Wir gehen zelten.« Ben zeigte nach Westen. »Eigentlich wollten wir heute den Fuji-san besteigen und morgen erst im Aokigahara übernachten. Aber jetzt tauschen wir einfach: Erst campen und dann wandern.«
»Honto?«, fragte Honda, indem er die letzte Silbe betonte. Dabei zog er die Augenbrauen bis über den Rahmen seiner Brille hoch und murmelte kopfschüttelnd auf Japanisch weiter vor sich hin.
»Du meinst den Selbstmordwald, oder wie auch immer man den nennt?«, schlussfolgerte John Scott.
Ich sah Neil nicken.
»Ja, das ist richtig«, bestätigte Ben. »Dorthin ziehen sich jedes Jahr viele Leute zurück, um sich umzubringen.«
»Im Ernst?« Das wunderte mich wirklich, denn bis heute hatte ich noch nie etwas von diesem Wald gehört. »Warum ausgerechnet dort? Was ist denn so besonders daran?«
»Um Aokigahara ranken sich viele Gerüchte«, sagte Honda. Er legte seine Stirn in Falten und man merkte, dass er eindeutig ungern über dieses Thema sprach. »Der Ubasute-Mythos geht unter anderem darauf zurück. Während der Hungersnöte setzten Familien ihre Kinder oder ihre alten Angehörigen dort aus, um so weniger Mäuler stopfen zu müssen. Deshalb glauben viele Japaner, dass der Wald von yūrei heimgesucht werde, also den Geistern Verstorbener.«
Ich versuchte, unter psychologischen Gesichtspunkten dahinterzukommen, weshalb man einen geliebten Menschen der Dehydrierung beziehungsweise dem langsamen und qualvollen Hunger- oder Kältetod aussetzen sollte. Mich erinnerte das irgendwie spontan an Hänsel und Gretel, bloß umgekehrt, wenn die Jungen die Alten im Stich lassen würden. »Aber was hat das damit zu tun, dass Lebensmüde dort Selbstmord begehen?«
»Der Wald ist seit jeher als Ort des Todes bekannt«, erklärte Honda lapidar, »also zieht er den Tod wohl magisch an.«
»Und da gibt es diese Bücher«, fügte Ben hinzu.
Davon wusste ich ebenfalls nichts. »Welche Bücher?«
»Vor Jahren wurde ein Roman über ein Pärchen zum Bestseller, das sich gemeinsam im Aokigahara umgebracht hat. Das verklärte die Idee, dies zu tun irgendwie, und machte den Wald noch bekannter. Außerdem gibt es da noch ein sogenanntes Vollständiges Handbuch zum Suizid. Darin ist der Wald als wunderschön und friedlich beschrieben; der perfekte Ort zum Sterben.«
Der letzte Teil des Satzes bereitete mir Unbehagen. Der perfekte Ort zum Sterben.
Daraufhin schwiegen wir alle. Ich schaute zuerst Neil und dann John Scott an. Der Neuseeländer sah finster aus, so als sei er nach dieser düsteren Gesprächswendung irgendwie verstört. Auch mein Landsmann schien nachdenklich geworden zu sein. Ben sagte nun etwas auf Hebräisch zu Nina, woraufhin sie antwortete. Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, lächelte sie.
Ben meinte schließlich: »Wir nehmen jetzt einen Bus und fahren zum Aokigahara.« Er zeigte auf eine Haltestelle in der Nähe. Aber ein Bus war dort weit und breit nicht zu sehen. »Wenn du mich fragst, solltet ihr alle mit uns kommen. Das wäre doch ein tolles Abenteuer, findest du nicht auch? Und wir hätten nichts gegen Gesellschaft.«
Ich wollte schon ablehnen, als John Scott plötzlich meinte: »Ich bin dabei!« Er schüttelte sich eine Zigarette aus einer Packung Marlboro Red, die er auf einmal aus einer seiner Taschen hervorgezaubert hatte. »Auf jeden Fall besser als ein Vergnügungspark.« Nachdem er sie angezündet und daran gezogen hatte, stieß er den Qualm gelassen in einer langen Qualmwolke aus dem Mund wieder aus.
Ich hatte mir das Rauchen ein Jahr zuvor auf Mels Wunsch hin abgewöhnt. Sie war angeblich um meine Gesundheit besorgt gewesen, doch ich vermutete eher, dass ihr der Zigarettengestank in meinen Klamotten und Haaren nicht zugesagt hatte. Immer wenn jemand vor meinen Augen eine Kippe ansteckte, bekam ich nach wie vor Lust darauf und musste diesen Drang krampfhaft unterdrücken.
John Scott nahm noch einen kräftigen Zug und atmete aus, als er weitersprach: »Also, was ist jetzt? Wir wollten die Zeit doch irgendwie totschlagen, oder? In einem Geisterwald zu zelten hört sich doch ganz spannend an.«
Neil starrte in die Ferne, was ich dahin gehend deutete, dass er sich nicht festlegen wollte. Honda schüttelte allerdings schon wieder den Kopf. Ihm gefiel die Idee definitiv nicht.
»Neil?«, drängte John Scott jetzt. »Was meinst du, Dicker?«
Neil hatte überhaupt kein Übergewicht, und diese Anrede hielt ich vor dem Hintergrund, dass er doppelt so alt war wie der Soldat, außerdem für sehr respektlos.
Er zuckte mit den Achseln. »Ich mag es, zelten zu gehen, und habe auch schon von diesem Wald gehört. Könnte bestimmt interessant werden, aber es gibt bald Regen. Und ich will die Nacht auf keinen Fall im Freien verbringen, wenn es draußen kalt und nass ist.«
»Aokigahara ist etwas ganz Besonderes«, entgegnete Ben. »Er ist sehr dicht bewachsen, wisst ihr das? Deshalb hält das Blätterdach den Regen größtenteils ab.«
Das hörte sich für mich reichlich unglaubwürdig an, doch ich verkniff mir einen Kommentar, denn so langsam konnte ich mich für diese Zeltsache erwärmen. Es war schließlich ein langes Wochenende, also konnten wir den Fuji auch noch Sonntag besteigen und erst am Montag zurück nach Tokio fahren, ohne dass sich jemand von uns auf der Arbeit krankmelden musste. »Zum Campen wären wir auf jeden Fall ziemlich gut vorbereitet«, deutete ich verhalten an. »Wir haben Lebensmittel, Zelte, warme Kleider …«
»Dann packen wir's an, Alter«, beharrte John Scott.
Honda verschränkte seine Arme vor der Brust und verbeugte sich entschuldigend. »Sorry, aber ich kann nicht mitkommen, nicht dorthin. Macht ihr ruhig. Ich halte euch zwar für verrückt, aber nur zu. Kein Problem.«
Ben verlagerte daraufhin sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als warte er ungeduldig darauf, dass wir uns entschieden.
»Einen kurzen Moment, ich erklär das mal schnell meiner Freundin«, sagte ich.
Ich stieg wieder auf der Beifahrerseite von Tomos aufgemotztem Subaru WRX ein. Wie ich feststellte, schlief Mel immer noch, also fragte ich ihn: »Was weißt du über diesen Selbstmordwald?«
»Ach! Darüber habt ihr euch so verflucht lange unterhalten? Ohne mich?«
»Du hättest ja zu uns kommen können.«
»Du hast gesagt, ich soll bei Mel bleiben.«
»Was weißt du denn nun?«
»Der Wald ist in ganz Japan berühmt. Leute gehen rein und begehen Selbstmord.«
»Demnach stimmt es, ja?«
»Verrückt, nicht wahr?«
»Was würdest du davon halten, heute Nacht dort zu zelten?«
»Willst du mich auf den Arm nehmen, fuck?« Tomo wollte cool wirken, das tat man unter jungen Japanern, indem man englische Flüche verwendete. So wollten sie damit angeben, wie bewandert sie in der Sprache waren, doch einige benutzten solche Ausdrücke einfach zu häufig. Sie waren nämlich nicht damit aufgewachsen und hatten als Kinder auch keinen Ärger dafür bekommen, sie in den Mund zu nehmen. Es handelte sich also für sie um nichts weiter als um Vokabeln. Tomo gehörte zu dieser Generation. »Ihr wollt dort übernachten? Im Ernst?«
»Unsere Bergwanderung fällt flach, weil ein Unwetter vorhergesagt wurde, also fahren wir stattdessen entweder wieder zurück nach Tokio oder wir unternehmen hier etwas. Honda will nicht zelten, aber Neil und John Scott haben nichts dagegen. Die beiden dort …« Ich zeigte auf die Israelis. »… hatten die Idee.«
»Die ist ja heiß!«
Wenn mich nicht alles täuschte, wurde Tomo immer von zwei oder drei verschiedenen Frauen gleichzeitig umschwärmt. Mit seiner strubbeligen Frisur, die unter japanischen Männern sehr beliebt war, den Mandelaugen, einer spitzen Nase und den hervorstehenden Wangenknochen sah er sehr gut aus. Allerdings hätte er mal zum Zahnarzt gehen müssen, denn in seinem Mund stand wirklich nichts gerade. Das war andererseits nur meine Einschätzung, denn yaeba, schiefe Zähne sah man in Japan allerorts und hielt sie sogar für anziehend. Ich hatte von Personen gehört, die sich sogar extra am Gebiss operieren ließen, um diesem Ideal zu entsprechen.
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