Ich würde sagen, den Tiefpunkt meiner Depression – damit einher gingen auch die Selbstmordgedanken – dauerte einen Monat, vielleicht auch zwei. Währenddessen hatte ich auch nur selten meine Wohnung verlassen, höchstens um Vorlesungen zu besuchen. Ich hatte allein sein und nichts mit dem Rest der Welt zu tun haben wollen.
Etwas wie Aokigahara wäre mir damals lieb gewesen: Ein Ort, wo ich meine Ruhe gehabt hätte und irgendwann vergessen worden wäre.
Nichtsdestotrotz habe ich von jeher eher pragmatisch gedacht und hatte schließlich eingesehen, dass mein Tod Gary auch nicht wieder zum Leben erwecken würde. Vielmehr hätten meine Familie und meine Freunde noch mehr gelitten, wie hier andeutungsweise aus den Hinweisschildern, die wir gesehen hatten, hervorgegangen war.
Bedauerlicherweise kannte ich den Dominoeffekt auch aus erster Hand. Es war damals während meiner Zeit auf der Highschool geschehen. Eines Samstagnachmittags in den Sommerferien hatten sich sechs Bekannte von mir in ein Auto mit nur fünf Sicherheitsgurten gequetscht, um zu einem Konzert von Pearl Jam zu fahren. Barry »Wiesel« Mitchell hatte am Steuer gesessen. Er war zu schnell unterwegs gewesen, und mein enger Freund Chris, der zu den sechs gehörte, erzählte mir später, er hätte ihn am Liebsten darum gebeten, langsamer zu fahren, sei aber zu schüchtern gewesen, um etwas zu sagen. Da die hohe Geschwindigkeit den anderen offenbar nichts ausmachte, hatte er sich vorgenommen, es genauso zu halten wie sie. Man hatte eine zwei Fuß hohe Bong herumgereicht und das Wageninnere damit verqualmt. Als Wiesel daran ziehen sollte, bat er seinen kleinen Bruder Stevie, der auf der Beifahrerseite saß, das Lenkrad so lange ruhig zu halten, bis er sich seine Dröhnung verpasst hatte. Mittlerweile wollte Chris aber gar nicht mehr, dass sie langsamer fuhren, sondern ganz anhielten, damit er aussteigen konnte. Gerade als er seinen Mut zusammennahm, seinen Wunsch zu äußern, driftete das Auto auf den unbefestigten Seitenstreifen ab. Wiesel schob die Bong weg und lenkte ruckartig nach links – zu stark allerdings. Sie rasten nun quer über die zweispurige Fahrbahn. Er wollte anschließend in die andere Richtung korrigieren, drehte das Rad aber wieder zu weit. Mit einem Mal verlor er komplett die Kontrolle, der Wagen entwickelte ein Eigenleben und geriet ins Schlingern. Dass er vom Highway abkam, ließ sich nicht mehr vermeiden. Danach rasten sie vorwärts in einen flachen Graben, wieder heraus und schließlich frontal gegen einen Baum. All das geschah kurz hinter dem Flugplatz Blackhawk.
An mehr erinnerte sich Chris nicht, weil er zu dieser Zeit sein Bewusstsein verlor. Die Lücken schloss ich anhand dessen, was die Zeitungen berichteten und anschließend auf der Schule gemunkelt wurde. Jemand sei irgendwann vorbeigekommen und habe den Unfall gemeldet. Der eine Insasse, der nicht angeschnallt gewesen war – der Sechste, Anthony Mainardi – war durch die Windschutzscheibe geschleudert worden, hatte aber wundersamerweise die harmlosesten Verletzungen davon getragen, lediglich Schnitte im Gesicht und ein paar Prellungen. Die anderen hingegen zogen sich verschiedene schwerere Verletzungen zu.
Kenny Baker musste sein Gesicht von einem plastischen Chirurgen wieder richten lassen, während sich Tom Reynolds mehrere Rippen gebrochen und die Hälfte seiner Zähne verschluckt hatte. Stevie, der zwei Jahre jünger als die anderen gewesen war, hatte als Einziger nicht überlebt. Denn als der Wagen den Baum gerammt hatte, war der Motorblock einige Fuß weit in den Innenraum geschoben worden und hatte ihn auf dem Beifahrersitz zerquetscht. Angeblich seien seine Eingeweide herausgequollen, so ähnlich wie bei überfahrenen Tieren. Man hatte ihn noch am Unfallort für tot erklärt.
Zwei Wochen, nachdem man Wiesel wegen fahrlässiger Tötung aufgrund des Einflusses illegaler Drogen am Steuer angeklagt hatte, stopfte er Socken in den Auspuff des verbliebenen Autos seiner Eltern und setzte sich ans Lenkrad. Dann startete er den Motor und starb kurze Zeit später an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Seine Mutter erlitt wenig später einen Nervenzusammenbruch und wurde ins Badger Prairie Health Care Center eingewiesen (im 19. Jahrhundert hatte die Klinik noch Danke County Asylum geheißen und geisteskranke Kriminelle aufgenommen), wo sie sich zuerst beide Pulsadern aufschlitzte, aber gerettet wurde, es aber schließlich doch schaffte, sich umzubringen, indem sie aus einem Fenster im siebten Stock sprang. Am Tag nach ihrer Beerdigung griff Wiesels Vater, der Polizist war, zu seiner Dienstwaffe und schoss sich in den Kopf.
»Ach, Shit«, hörte ich Tomo sagen, womit ich spontan in die Gegenwart zurückbefördert wurde.
Mehrere Dutzend Fuß vor uns tat sich plötzlich eine Lichtung auf, auf der ein dicker Baum umgestürzt war und mehrere kleinere mitgerissen hatte. Dort war das weiße Band festgemacht.
»Eine Sackgasse«, erkannte ich.
»Sieht ganz danach aus«, erwiderte Neil.
Während wir uns die Bedeutung dieses Umstands bewusst machten, brach ein Gefühl der Enttäuschung in mir aus. Wir würden John und die Israelis nicht zu uns rufen können, sondern mussten den ganzen weiten Weg bis zu den zusammengewachsenen Bäumen wieder zurückgehen, und falls auch die andere Gruppe nichts entdeckt hatte, war die ganze Exkursion komplett für die Katz gewesen.
Alles nur wegen eines weißen Bandes.
Als wir die Lichtung betraten, schaute ich hoch. Jetzt sah ich zum ersten Mal deutlich den Himmel, seit wir den Nebenweg eingeschlagen hatten. Die Wolken zogen allerdings immer noch auf niedriger Höhe vorüber, grau und unheilvoll. Ich ging weiter, ohne den Blick zu senken, und hielt die Hände hoch, als würde ich jede Sekunde mit Regen rechnen. Mel herrschte mich an, ich solle sofort stehen bleiben.
Das tat ich, vor allem weil ich befürchtete, sonst womöglich in ein weiteres unsichtbares Loch zu treten, aber nein: Ich befand mich weiterhin auf festem Grund. Während ich mich verständnislos zu ihr umdrehte, suchte ich den Waldboden ab und sah schließlich, was ihr aufgefallen war: Mir blieb fast das Herz stehen, und ich fror plötzlich am ganzen Körper.
Ich stand praktisch auf einem Grab.
Rechts neben mir lagen verstreut mehrere Gegenstände, die in keinem normalen Haushalt weiter aufgefallen wären. Hier jedoch im Herzen eines Waldes – dieses Waldes – ließen sie augenblicklich Schauerliches vermuten. Es war ein alter, zerfetzter Regenschirm, eine ruinierte Handtasche, dreckig und mit Laub bedeckt, ein Päckchen Zigaretten Marke Seven Stars, eine leere Flasche Smirnoff-Wodka, ein zerbrochener Spiegel, eine Zahn- und eine Haarbürste sowie ein Lippenstift.
Was uns aber vermutlich von allem am meisten verstörte, war eine Kinderpuppe, die jemand umgedreht an einen Baumstamm in der Nähe genagelt hatte.
Ich konnte mich weder bewegen noch meinen Blick von dieser bunten Ansammlung persönlicher Gegenstände losmachen, während meine Gedanken rasten, weil ich mich bemühte, eine vernünftige Erklärung dafür zu finden, was hier vor mir lag. Der Lippenstift deutete darauf hin, dass es sich bei der Person, die hier offensichtlich gestorben war, um eine Frau gehandelt hatte. Darum empfand ich das Ganze als umso tragischer. Ich weiß nicht warum, denn immerhin begehen nicht nur Männer Suizid. Wahrscheinlich hatte ich darauf spekuliert, falls wir jemanden finden würden, sei es ein Mann. Die Vorstellung, eine Frau komme auf solche Weise um – in der Wildnis und ganz allein –, widerstrebte mir irgendwie.
Als ich mich endlich von den traurigen Überbleibseln eines Lebens abwenden konnte, schaute ich vorsichtig hoch. Aber nirgendwo baumelten eine Leiche oder ein abgerissener Strick. Ich schaute mich wieder auf dem Boden um. Keine Knochen, keine Kleidungsstücke.
In mir taten sich Abgründe auf, Gedanken so finster wie die Umgebung, und ich stellte mir auf einmal Fragen über die Tote.
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