Hierzu galt es, neue Wege zu beschreiten, die noch ungewohnt und womöglich auch ein wenig unbequem sein würden. Zu gerne wäre er nochmals in die Menschenwelt des 21. Jahrhunderts zurückgekehrt, um sich noch einmal – und diesmal richtig –, für immer von ihr zu verabschieden. Zu verabschieden von einer Welt, die nichts als Unverständnis für ihn übrig hatte und ihn doch irgendwie liebte. Nun aber war er hier und an diesen Ort gebunden. Um nicht unangenehm aufzufallen, hatte er sich an alles zu gewöhnen und sich auf jegliches Fremde einzulassen. Nur so konnte er überleben und seiner wahren Bestimmung folgen.
„Hast du gut geschlafen Jonnef?“
Jonnef nickte, obgleich er vom Gegenteil überzeugt war.
„Das schien aber nicht gerade glaubhaft“, erwiderte Dragon Feu mit einem schiefen, doch wohlmeinenden Lächeln, sodass ihm Jonnef gestand, einfach zu viel nachgedacht zu haben. „So? Na dann los, lass uns zum Tagwerk schreiten. Heute beginnt deine Ausbildung zu einem der größten Magier von Magictown, so will ich hoffen.“ Dragon schmunzelte und zwinkerte ihm mit einem Auge zu, um dann wieder ernsthafter zu werden. „Du bist nun mein Zauberlehrling und ich hoffe, du wirst dich meiner würdig erweisen.“
Jonnef dankte und verneigte sich tief vor seinem Meister. „Ich werde mich darum bemühen, Euch nicht zu enttäuschen, Meister Dragon Feu.“ Sie reichten einander die Hände zum Zeichen ihres Einverständnisses.
„Was immer auch geschieht, Jonnef. Und es geschieht sehr viel in dieser Welt, was sich unserer Kenntnis und Kontrolle entzieht, ich werde immer bei dir bleiben und zu dir halten. Ich werde dich beschützen, solange ich dein Meister und am Leben bin.“
Jonnef schien bewegt und dankte ihm für seine Worte. Dann wurde Dragon Feu wieder strenger. Er forderte ihn auf, sich aufzurichten, seine Arme gen Himmel zu strecken und seine Hände halbmondförmig zu öffnen.
Jonnef tat, wie angewiesen.
„Und nun schließe deine Augen und spüre in dich hinein.“
Jonnef schloss sie und versuchte, seine Konzentration nach innen zu richten, um in sich hineinzufühlen, wobei Dragon Feu ihm viel Zeit und Ruhe ließ.
„Was spürst du, Jonnef?“, wollte Dragon Feu nach einer Weile von ihm wissen.
„Ich fühle, wie etwas in mir aufsteigt und nun zu brodeln beginnt. Eine innere Kraft, eine Macht, die mir Stärke verleiht und sich in mir erhebt.“ Ein wenig furchtsam blickte er Dagon Feu an, der jedoch zufrieden nickte.
„Das ist die Zauberkraft. Gebrauche sie weise!“
Jonnef nickte abermals und schien, mit sich zu ringen.
„Schließe noch einmal die Augen und konzentriere dich auf deine Hände. Versammele nun all deine Kraft und richte sie hin zu deinen Handflächen. Deine ganzen Gedanken müssen nun auf sie ausgerichtet sein. Was fühlst du?“
„Ich spüre, wie meine Hände immer wärmer und wärmer werden und wie die Magie darin ruht.“ Jonnef zitterte. „Sie wünscht, von mir freigesetzt zu werden.“
„Gut so. Dann, lass sie frei! Lass sie los! Wirf sie von dir! Wirf sie fort! Wirf sie aus dir hinaus! Heraus damit!“, rief Dragon Feu ihm zu, der in weiser Voraussicht ein wenig Abstand nahm. Dann machte er eine Bewegung nach vorne, als werfe er etwas von sich, sodass Jonnef es ihm gleichtat.
Nichts aber geschah.
„Wie soll das geschehen?“, rief ihm Jonnef ein wenig verzweifelt entgegen, als sich nichts regte.
„Über die Kraft deiner Imagination“, entgegnete ihm Dragon Feu nun ein wenig harscher werdend, beinahe streng, so als sei dies selbstverständlich. „Du musst es dir vorstellen! Stelle dir einfach vor, wie du sie aus deinen Händen entlässt. Vor deinem inneren Auge muss es geschehen. Du musst es sehen und fühlen. Und dann tritt es ein.“
Jonnef lächelte ein wenig über die Selbstverständlichkeit, die Tragweite und Bedeutung dieser Worte, dann tat er, wie angewiesen, konzentrierte sich und versammelte all seine Kräfte zu seinen Händen hin. Und plötzlich, in der Tat entsprangen daraus zischende, violette Blitze, die aus seinen Adern über seine Handflächen hinaus hell erleuchtet in den Himmel sich erhoben. Erschrocken sank Jonnef zu Boden und blieb dort eine Weile in der Hocke sitzen. So überwältigt und erstaunt war er von den magischen Kräften in sich drin.
„Das war gewaltig“, rief Dragon Feu ihm zu. „Und ziemlich gut für den Anfang.“
Jonnef aber kniete und begann, unaufhörlich zu zittern. Das Zittern münzte in ein inneres Beben und ließ ihn am ganzen Leib schütteln. Zu tief saß der Schock. Zu tief, das Wunder, das er soeben gesehen hatte. Mit einer Wolldecke in der Hand kam Dragon Feu zu dem Jungen gelaufen, um ihn fürsorglich darin einzuwickeln. Dann reichte er ihm eine Tasse stärkenden Kräutertees. „Komm, setz dich erst einmal hin und beruhige dich.“ Seine Stimme war diesmal ganz sanft, fernab des Grummelns und Polterns, das Jonnef sonst von ihm gewohnt.
„Ich habe plötzlich Angst vor mir“, gestand ihm Jonnef noch immer zitternd wie Espenlaub und um Worte ringend.
„Das geht vorüber, mein Junge“, brummelte er wieder. „Du wirst dich vorerst daran gewöhnen müssen und solltest dich nicht allzu sehr vor deiner eigenen Macht fürchten. Schließlich sollen wir uns nicht vor uns selbst und anderen gegenüber ein Leben lang verschließen und verstecken, um unsere Gaben, Talente und Fähigkeiten für uns zu behalten, sondern die Menschen damit bereichern und ihnen ein Segen sein. Traue dich, zu zeigen, was in dir steckt. Entdecke dich und deine Gaben und lerne, mit ihnen angemessen umzugehen, auf dass du deine Wunden zu Perlen verwandelst und mit deiner individuellen Persönlichkeit den Menschen zum Wohlgefallen dienst. Nosce te ipsum, Jonnef, und du wirst mich verstehen.“
Obgleich Jonnef den letzten Worten Dragon Feus aufmerksam zugehört hatte, schien er doch wie abwesend und noch immer nicht Herr über sich und seine Geisteskräfte zu sein.
„Lass uns nun weitermachen“, forderte Dragon Feu ihn auf. „Du hast nun die magischen Kräfte in dir kennengelernt und sie ertragen. Jetzt werde ich dir die wichtigste meiner Zauberkünste beibringen. Einen Feuerabwehrzauber.“
Jonnef willigte ein und richtete sich erneut auf, so wie Dragon Feu es ihm beigebracht hatte.
Er lobte ihn: „Gut, nun tue genau das, was ich dir sage.“
Wieder begann Jonnef zu zittern angesichts seiner Angst vor der ihm noch unbekannten Macht, welche er noch nicht recht einzuschätzen wusste und die ihn in einen Zustand der Ohnmacht versetzte. Jonnef erkannte es ganz deutlich und auch, dass sich diese Angst in ihm einfach nicht unterdrücken ließ. Trotzdem versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Dragon Feu erkannte Jonnefs innere Anspannung und bat ihn zunächst, nichts zu tun, als einfach nur auszuatmen. „Nun sollst du mir zuhören und dir vor deinem geistigen Auge vorstellen, wie riesige Wassertropfen dir aus deinen Händen kommen und in die Lüfte aufsteigen.“
„In Ordnung“, erwiderte Jonnef.
„Nimm die Position ein wie vorher und stelle es dir bildlich vor“, ermahnte ihn Dragon Feu noch einmal.
Jonnef kniff die Augen krampfhaft zusammen und versammelte all seine Kräfte hin zu seinen Handflächen, bis er erneut zu zittern begann, doch diesmal nicht aus Furcht oder Nervosität, sondern vor Anstrengung.
„Na los!“, rief Dragon Feu.
„Ich versuche es ja, aber die Vorstellung allein ist einfach zu grotesk“, beklagte sich Jonnef in seiner Verzweiflung angesichts seines Unvermögens. Der Lehrmeister schien einfach zu viel, ja gar Unmögliches von ihm zu verlangen, zumindest etwas, das seine Kräfte überstieg.
„Ich dachte, du bist in der Menschenwelt ein Träumer gewesen, und nun hast du keine Imagination?“
Worte, die Jonnef äußerst schmerzhaft trafen. Sie ließen ihn seine Hände nun in eine solche Spannung versetzen, dass er erneut die in ihm aufkommende Macht spürte. Stärker und immer stärker wurde sie nun, bis sie in ihm zu rütteln begann. Jonnef glaubte, fast keine Kontrolle mehr über sie und seinen Körper zu haben, so mächtig brodelte sie in ihm und verlangte geradezu danach, freigelassen zu werden. Plötzlich schrie Jonnef wider Willen auf. Solch einen Schrei hatte er noch nie von sich vernommen. Und hervor kamen zwei riesige Wassertropfen, die er unverzüglich gen Himmel sandte.
Читать дальше