Weitere Tage vergingen und Jonnef fühlte zunehmend, dass er Teil dieser Welt zu sein schien, der er bislang fremd gegenüber gestanden hatte und die nun mit ihm zu sprechen begann. „Wie kam es zu all dem hier, dieser Zaubererwelt?“, wollte er nun von Dragon Feu wissen, noch bevor er in die Verlegenheit kam, zu überlegen, ob er an diesem Ort überhaupt so etwas zu sagen, geschweige denn zu fragen hatte.
Wieder setze sich Dragon Feu neben ihn und dachte nach, wie er beginnen sollte. Er räusperte sich. „Aus mehr als einer Dimension besteht diese Welt, die man auch den Psaridos nennt. Eine Welt der Magier, der Ritter, der Geistlichen und der modernen Menschen. Obwohl sie äußerst intelligent sind, die Weiten des Kosmos und die Tiefen des Ozeans nach fremdem Leben haben abgesucht, ahnen sie nichts von jenen drei ihnen verborgenen gebliebenen Welten.“ Dragon Feu schmunzelte über Jonnefs Erstaunen. „Von einer unsichtbaren Ruine aus, mitten im Wald gelegen, gelangen wir Zauberer in ihre Welt und wieder zurück durch eine Pforte. Du hast es selbst erlebt. Doch den Menschen ist dies bis zum heutigen Tag unbekannt geblieben.“
„Aber warum sind wir anders?“, fragte ihn Jonnef.
Wieder räusperte sich der Magier. Er überlegte lange, bevor er zu sprechen begann, holte tief Luft und setze dann mit einer erhabenen, ehrerbietigen Stimme an: „Der Legende nach lebte ein Drachenkind in einer Höhle zu Magictown, das besondere magische Kräfte besaß. Durch Zufall haben die Menschen davon erfahren und sich auf den Weg gemacht, es zu finden. Ganze Truppen an tapferen Männern aus Maryland sind ausgezogen, im Verlangen nach den magischen Kräften. Unter ihnen Richard, der seines Eigensinns und seiner Kühnheit wegen in seinem Dorf nicht nur hoch angesehen war, sondern auch angefeindet von solchen, die ihn darum beneideten. Infolgedessen zog er es vor, alleine, abseits des Dorfes zu leben. Allein auch ritt er davon. Allein auf sich gestellt, nur seiner Intuition folgend. Doch ihm entgegenkam sein Bruder Rubeus, der ihm an Eigensinn und Stärke glich. Beide von derselben Habgier, von Ehrgeiz gepackt, ritten sie vierzig Tage und Nächte lang ohn’ Unterlass, um eine Höhle nach der anderen zu erkunden, indessen die königlichen Truppen an Söldnern längst aufgegeben hatten und sich auf dem Rückweg befanden. Die Brüder aber ließen nicht nach und sich nicht davon beirren. Denn nichts und niemand vermochte sie von ihrer Unternehmung abzubringen. Unaufhaltsam und uneinsichtig sollen sie gewesen sein, indessen die Geistlichen sie verurteilten, da sie in ihrem allzu gestrengen Ehrgeiz, ihrer Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit, kurzum ihres Kampfgeistes wegen, der bis hin zu einer ungesunden Verbissenheit reichte, ein ungöttliches Streben sahen. Die beiden aber hatten ein Ziel vor Augen, das es unbedingt zu erreichen galt. Mit enormer Willensstärke schritten sie voran, die sie zu unmöglichen Leistungen anspornen ließ und jegliche Unannehmlichkeiten ertragen. Nachdem die Truppen des Königs keine Gefahr mehr für sie darstellten, kam es nun zum Konkurrenzkampf unter den Brüdern. Denn sie waren nicht bereit, zu teilen. Ein jeder wollte der Erste sein und nicht gemeinsam mit dem anderen das Drachenkind erblicken. Richard war es schließlich, welcher die unheilbringende Höhle hinter dem rauschenden Wasserfall entdeckte und in das dunkle Innere mit erhobenem Schwert sich wagte.„Äußerst nebelig und warm soll es der Überlieferung zufolge darin gewesen sein.“ Dragon Feu unterbrach sich selbst, um zu erkennen, ob Jonnef seiner Erzählung noch immer aufmerksam folgte. Jonnef nickte, um zu signalisieren, dass er noch immer gespannt zuhörte.
„Die Höhle erschien Richard jedoch immer bedrohlicher, da die Wände zu singen schienen und erbebten, indessen sprudelnd heiße Quellen aus kaltem Gestein aufstiegen, die er vorsichtig umging. Und dann, dann sah er es. Das Drachenkind! Inmitten des Felsgesteins. Das sagenumwobene Drachenkind mitsamt dem Muttertier, das sein Junges liebevoll leckte und ihm von seiner Milch zu trinken gab, während violette Blitze aufleuchteten, die von dem Drachenkind aus auf das Muttertier übertragen wurden und die sie wohltuend in sich aufnahm, so als würden sie ihr Stärke verleihen. Von unersättlicher Gier nach den magischen Kräften und ihrer Macht erfasst, griff Richard nach dem Schwert, um es wie ein Speer erhoben auf das Drachenkind zu richten. Mit erhobener Klinge stürzte Richard auf es zu, gefolgt von Rubeus, welcher den Spuren des Bruders heimlich nachgegangen war. In seiner Eifersucht raste er auf ihn zu und stürzte ihn gewaltsam nieder, wobei Rubeus die Kontrolle über seinen eigenen Körper verlor und mit seinem Hinterkopf auf den steinigen Boden fiel, wo er unsacht an einen Felsen stieß, der ihn bewusstlos machte. Durch den Kampf der Männer aufgeschreckt, erhob sich der riesige aus unzähligen Stacheln versehene Körper der Drachenmutter und bäumte sich vor ihnen auf, um ihr Junges zu schützen, sodass die Höhle unter ihrem Gewicht bebte und Gesteinsbrocken herabfielen, die die Männer zu erschlagen drohten. Furchtlos stand jedoch Richard der Drachenmutter gegenüber. Er blieb wie angewurzelt stehen, obgleich er an sein Lebensende gedachte, nach Flucht und Umkehr sann. Mit feurig funkelnden Augen versah ihn nun die Drachenmutter, bereit ihn zu vernichten. Richard aber war fest entschlossen, mit ihr um ihr Junges zu ringen. Abermals hielt er das Schwert wie ein Speer in der Hand, das als Schusswaffe gebraucht und auf das Mutterherz gerichtet, sein Ziel nicht verfehlte. Getroffen schrie sie auf und sank zu Boden, indessen Richard sie für erschlagen hielt und beinahe selbst erschlagen worden wäre durch herabfallendes Geröll der zunehmend einstürzenden Höhle, ausgelöst durch ihren Schrei und Fall. Hätte Richard nicht die Nische neben sich entdeckt, in die er im letzten Moment noch hineingekrochen war, so wäre er dem Erdboden gleich gemacht worden. So aber überlebte er, eingeigelt wie ein Kind im Mutterleib, und schützte sich das Haupt, auf das Staub rieselte. Indessen kroch das tödlich verwundete Muttertier zu seinem Drachenkind, das die Wunde wehklagend leckte und mit seinen magischen Kräften versah, um sie zu heilen. Noch ein wenig benommen von der Erschütterung, wie leicht betäubt, kroch Richard aus seinem Versteck hervor und fasste sich ans Herz, um festzustellen, ob er noch lebte. Dann klopfte er sich den Staub vom Gewand und lächelte wie ein Todgeweihter, der den ersten Schrecken überstanden und überlebt hatte. Von dem Ereignis furchtsam gemacht, ging er behutsam, auf leisen Sohlen weiter. Fast geräuschlos schritt er von einem Stein zum anderen, um sich erneut dem Drachen zu nähern. Für einen kurzen Moment jedoch musste er an seinen Bruder denken, den er bewusstlos zurückgelassen hatte und welcher nun sicherlich unter dem Geröll begraben lag. Schuldgefühle überkamen ihn, er weinte, erst leise in sich hinein, dann laut schluchzend aus sich heraus. Es zwang ihn zu Boden, wo er eine kurze Weile verharrte. Dann jedoch war er wieder auf sein Ziel fokussiert, zur Erreichung dessen er auch nicht nur eine Sekunde lang an seinen Bruder zu denken hatte und schon gar nicht Reue zu empfinden, um in Schuldbewusstsein zu verharren, das ihm nur hinderlich erschien. Dem Drachenkind galt es, sich zu nähern und es für sich einzunehmen. Deshalb wollte er ohne Verzögerung weitergehen, obgleich er einen stechenden Schmerz an der Seite spürte, der ihn in die Knie zwang. Eine Verwundung, die er zuvor nicht bemerkt hatte. Doch auch diese durfte ihn nicht hindern. Er biss die Zähne zusammen und kroch auf allen vieren weiter. Zu seinem Erstaunen fand er schließlich eine breite Schlangenlinie vor, die der Schwanzspitze eines Drachen angehören musste. Intuitiv folgte er ihr, bis dorthin, wo der Sand im Geröll sich wieder verlor. Dann blickte er durch einen Spalt im Felsen hindurch. Sein Herz zuckte zusammen. Erneut erblickte er das Drachenkind. Mit seinen sanften braunen Augen sah es ihn fast unschuldig an und bot sich ihm in all seiner Verletzlichkeit und Schwäche dar. Es schmerzte Richard, solch einem Wesen Leid zufügen zu wollen, sodass er im Begriff stand, von seiner ruchlosen Tat abzulassen. Er hielt inne und sann nach einer Möglichkeit, es zu schonen. Doch erneut erblickte er die violetten Blitze und die magischen Kräfte, die das Drachenkind umgaben, und wieder war Richards unersättliche Gier erwacht. Ein weiteres Mal griff er nach dem Schwert, um es wieder erhoben wie ein Speer, diesmal jedoch auf das Drachenkind zu richten. Ein letztes Mal noch glänzte die Klinge, dann war sie mit Drachenblut benetzt. Du siehst Jonnef, von Anbeginn haben Menschen Unrecht getan und sich einander Leid und Schmerz zugefügt, selbst dann, wenn sie es zu tun nicht beabsichtigten. In ihrem ungebändigten Zorn, ihrer Verblendung und ihrem Selbsthass haben sie Kriege geführt. Und so auch einen Krieg gegen die Drachen ausgelöst.“
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