Wohin nur sollte er sich wenden? Verwandte besaß er nicht und ehemaligen Knastkumpanen wollte er lieber nicht trauen. Max schnaufte. Er musste kurz ausruhen. Außer Atem hockte er sich hinter einen Busch, stützte den Kopf auf seine Hände und grübelte eine Weile. Endlich kam ihm eine Idee. Die Jannings, seine Nachbarn, besaßen eine Laube in ihrem Schrebergarten. Zweimal war er dort gewesen. Einmal hatten sie Fraukes fünfzigsten Geburtstag dort gefeiert und vor gut einem Monat hatten sie ihn zum Grillen eingeladen, weil er ihnen beim Umzug ihrer Tochter geholfen hatte. Sie waren gemeinsam dort angekommen und Frauke Janning hatte den Schlüssel zu der Hütte in einem Plastikbeutel unter einem der Blumentöpfe hervorgeholt.
Eigentlich war die Gartenlaube als Versteck ideal. Niemand würde ihn dort vermuten. Außerdem machten die Jannings gerade Urlaub in Spanien. Dass ihre Tochter die Laube nutzte, hielt er für unwahrscheinlich. Und selbst wenn sie ihn dort überraschen würde, konnte er ihr immer noch irgendeine Geschichte auftischen und dann verschwinden. Die Chancen, bei einer Begegnung mit der Nachbarstochter heil davonzukommen, standen allemal besser als bei einem Zusammentreffen mit Hachlinger. Dumm nur, dass die Kleingartenanlage in derselben Richtung lag wie sein Zuhause, wo Hachlinger ihn wahrscheinlich vermutete und vielleicht versuchen würde, ihn abzufangen. Aber eine andere Lösung fiel ihm nicht ein.
Ein Hund im nahen Tierschutzzentrum Duisburg begann zu jaulen. Seufzend erhob er sich. Es wurde höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Am sichersten erschien es ihm, einen Umweg einzulegen und am Rhein entlangzulaufen.
Inzwischen hatte Max ein gutes Stück des Weges in Richtung Rhein zurückgelegt. Er schaute sich immer wieder um, aber er konnte nichts Verdächtiges entdecken. Niemand verfolgte ihn. Plötzlich hörte er ein Motorengeräusch. Ein Wagen schien sich mit hoher Geschwindigkeit zu nähern. Obwohl das Fahrzeug noch weit entfernt war, begannen seine Knie zu zittern. Max hechtete in den nächsten Hauseingang. Zuerst lehnte er sich an die Haustür, dann bückte er sich, als wolle er das Schlüsselloch suchen. Mit einem Mal flammte Licht auf. Offensichtlich reagierte nun der Bewegungsmelder. Scheiße, warum hatte er diesen Hauseingang gewählt? Das Motorengeräusch näherte sich unaufhaltsam. Er wagte nicht, auf die Straße zu sehen. Schweiß stand auf seiner Stirn. Als das Auto nur noch wenige Meter entfernt war, tropfte er ihm ins linke Auge. Es brannte, aber Max verharrte regungslos. Erst als der Wagen sich weit genug entfernt hatte, rieb er sich mit dem Handrücken über das Lid. Dabei stieß er geräuschvoll die Luft aus. Er wartete kurz ab, dann stieg er die zwei Treppenstufen zum Bürgersteig nach unten und spähte die Straße hinunter. Anscheinend war die Luft rein. Seufzend setzte er sich in Bewegung.
Die Rheinwiesen lagen nun vor ihm, und er hatte schnell den Weg erreicht, der unter der A40 herführte. Hier durften und konnten keine Autos fahren. Kurz vor der Unterführung hielt Max inne. Vielleicht hatte Hachlinger auf der anderen Seite Posten bezogen und wartete nur darauf, ihn zu erwischen. Quatsch, redete Max sich ein. Schließlich konnte sein Chef nicht überall auf ihn lauern.
Über ihm donnerte ein LKW über die A40, der offensichtlich die Waage passiert und das zulässige Höchstgewicht nicht überschritten hatte. Der Lärm hallte in Max’ Ohren. Mit jedem Schritt rannen neue Schweißperlen über seinen Rücken. Er hatte noch nicht das Ende des Tunnels erreicht, da war sein Hemd völlig durchnässt. Er bewegte sich vorwärts, erst vorsichtig, dann rannte er so schnell, wie es seine Beine zuließen.
Endlich konnte er wieder den Himmel sehen und niemand hatte sich am Tunnelausgang auf ihn gestürzt. Erleichtert drosselte er das Tempo. Nach einer Weile erkannte er das beleuchtete Rheinorange. Das Denkmal der Industriekultur hatte er im Frühjahr mal mit Hanno besucht.
Kurz bevor die Ruhr in den Rhein mündete, bog der Weg in Richtung der maroden Bürgermeister-Karl-Lehr-Brücke ab, die Max als den höchsten Gefahrenpunkt auf seiner Route einschätzte. Wenn er nicht noch einen großen Umweg machen wollte, musste er über die Brücke und das ahnte sein Chef ganz sicher.
Max hatte die kritische Zone fast erreicht. Er stellte sich die engen Spuren in der Baustelle vor und Hachlinger, der auf der anderen Seite auf ihn wartete. Nein, er riskierte, ihm direkt in die Arme zu laufen. Plötzlich kam Max eine Idee, wie er die Gefahr vermeiden konnte.
Kapitel 13
Barnowski saß seit einer Viertelstunde mit Nadine im Dienstwagen auf dem Parkplatz am Präsidium. Ihr Dienst war längst beendet, aber er verspürte nicht die geringste Lust, nach Hause zu gehen. Dort würde bestimmt dicke Luft herrschen. Wenn Gaby sich erst einmal was in den Kopf gesetzt hatte. Sie wollte den Trauschein unbedingt. Aber bitte nicht so. Er würde ihn sich nicht abtrotzen lassen. Wenn er schon in den Hafen der Ehe einschipperte, dann wollte er wirklich dahinterstehen und sich darauf freuen. Genau davon konnte im Moment keine Rede sein.
Er drehte sich zu Nadine um. »Hast du dich eigentlich ausdrücklich um die Stelle in Duisburg bemüht oder hat man dir keine andere Alternative angeboten?«
Sie lachte leise. »Nee, nee, ich bin freiwillig hier. Es gab noch andere Stellen, aber ich wollte unbedingt hierher.«
Barnowski wartete auf eine Begründung, aber Nadine blieb stumm. »Warum ausgerechnet Duisburg?«, fragte er nach einer Weile des Schweigens.
»Die Stadt ist besser als ihr Ruf«, antwortete sie und schien zu überlegen, wie sie das am besten ausdrücken konnte. »Sie hat einfach was. Oder besser alles auf einen Haufen: Kultur, Industrie und Natur. Dicht an dicht. Neulich habe ich in der Zeitung einen Artikel von unserem Oberbürgermeister gelesen. Duisburg ist überraschend anders, hat er erklärt, und dass der Kontrast von Industrie und Natur megaspannend sei. Damit hat er meiner Meinung nach vollkommen Recht.«
Barnowski trommelte mit den Fingern seiner Rechten auf dem Lenkrad herum. Ihn interessierte nicht im Geringsten, was Sören Link von sich gegeben hatte, er wollte etwas ganz anderes von seiner Kollegin hören.
»Wusstest du, dass die Stadt Zielpunkt der neuen Seidenstraße ist, auf der China mehrmals pro Woche Waren für Europa per Bahn zum Verteilort Duisburg transportiert?«
Barnowski brummte etwas Unverständliches, was normalerweise eher zu Pielkötter passte. Warum fiel Nadine nichts Besseres ein als China? Weiter weg ging es wohl nicht. Er wollte ... ja, was eigentlich? Aufmerksamkeit, zumindest ein paar verbale Streicheleinheiten.
»Aber am besten gefallen mir hier die Menschen«, fuhr sie fort.
Schon besser, dachte Barnowski.
»Diese Offenheit. Man gehört gleich dazu.«
»Auch auf dem Präsidium?«, fragte er, um noch Weiteres aus ihr herauszukitzeln, aber statt einer Antwort lachte sie nur. Warum waren Frauen so kompliziert? Weshalb drückte sie nicht einfach aus, wie sehr sie ihn als Kollegen schätzte und dass sie lieber wieder mit ihm zusammenarbeiten wollte als mit einem anderen.
»Ich muss los«, erklärte Nadine, »sonst bekomme ich diese Nacht wieder so wenig Schlaf wie gestern.«
Was hieß das? Gestern hatten sie doch ganz pünktlich Feierabend gemacht? Hatte sie etwa einen Freund, von dem er nichts wusste? Nachdenklich fuhr er sich durch das Haar. Komm runter von dem Trip, rief er sich zur Ordnung. Im Prinzip ging ihn das überhaupt nichts an. Im Prinzip.
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