»Haben Sie in der Ortschaft irgendwelche Erkundigungen eingezogen?«
»Ja. Ich habe mit dem Stationsvorsteher gesprochen und außerdem mit dem Wirt des Dorfgasthauses. Ich habe sie einfach gefragt, ob sie etwas über meinen alten Kameraden Godfrey Emsworth wüßten. Beide versicherten mir, daß er sich auf einer Weltreise befinde. Fast unmittelbar nach seiner Heimkehr sei er wieder aufgebrochen. Diese Geschichte wird offenbar allgemein akzeptiert.«
»Sie haben nichts von Ihrem Verdacht erwähnt?«
»Nein.«
»Das war sehr vernünftig. Die Sache sollte zweifellos untersucht werden. Ich fahre mit Ihnen zurück nach Tuxbury Old Park.«
»Heute?«
Zufällig war ich just zur gleichen Zeit mit der Aufklärung jenes Falles beschäftigt, den mein Freund Watson als ›Die Abtei-Schule‹ geschildert hat 28und in den der Herzog von Greyminster so tief verwickelt war. Außerdem hatte ich vom türkischen Sultan einen Auftrag, der nach sofortiger Erledigung verlangte, da seine Vernachlässigung politische Konsequenzen von schwerwiegendster Art zeitigen konnte. Daher war ich, wie mein Tagebuch vermerkt, erst zu Beginn der nächsten Woche in der Lage, mich in Begleitung von Mr. James M. Dodd auf den Weg nach Bedfordshire zu machen, um meinen Auftrag in Angriff zu nehmen. Als wir zur Euston Station fuhren, gesellte sich ein ernster und schweigsamer eisengrauer Gentleman zu uns, mit dem ich die nötigen Vereinbarungen getroffen hatte.
»Das ist ein alter Freund«, sagte ich zu Dodd. »Möglicherweise ist seine Anwesenheit vollkommen überflüssig; andererseits kann sie aber auch von wesentlicher Bedeutung sein. Im Moment brauchen wir darauf nicht weiter einzugehen.«
Die Erzählungen Watsons haben den Leser zweifellos schon an die Tatsache gewöhnt, daß ich weder Worte verschwende noch meine Gedanken enthülle, solange ein Fall noch überdacht wird. Dodd schien überrascht, doch es wurde nichts mehr gesagt, und wir setzten zu dritt unsere Fahrt fort. Im Zug stellte ich Dodd dann noch eine Frage; mir lag daran, daß unser Reisebegleiter sie ebenfalls hörte.
»Sie sagen, daß Sie das Gesicht Ihres Freundes ganz deutlich am Fenster gesehen haben – so deutlich, daß Sie von seiner Identität völlig überzeugt sind?«
»Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran. Er hat die Nase gegen die Scheibe gepreßt. Das Lampenlicht fiel voll auf ihn.«
»Es hätte niemand sein können, der ihm ähnlich sah?«
»Nein, nein; das war er selbst.«
»Aber Sie sagen doch, er sei verändert gewesen?«
»Nur die Hautfarbe. Sein Gesicht war – wie soll ich es beschreiben? – es war weiß wie ein Fischbauch. Es war wie gebleicht.«
»War es überall gleichmäßig blaß?«
»Ich glaube nicht. So deutlich habe ich ja nur seine Stirn gesehen, weil sie gegen die Scheibe gepreßt war.«
»Haben Sie ihn gerufen?«
»Ich war in dem Moment zu erschrocken und entsetzt. Dann bin ich ihm nachgerannt – wie ich Ihnen ja schon berichtet habe –, aber ohne Erfolg.«
Mein Fall war praktisch abgeschlossen; es bedurfte nur noch eines kleinen Details, um ihn abzurunden. Als wir nach ziemlich langer Fahrt bei dem seltsamen alten weitläufigen Haus, das mein Klient geschildert hatte, ankamen, öffnete uns Ralph, der ältliche Butler. Ich hatte den Wagen für den ganzen Tag gemietet und meinen älteren Freund gebeten, in ihm zu warten – es sei dehn, wir würden nach ihm rufen. Ralph, ein kleiner runzliger alter Knabe, trug die konventionelle Dienstkleidung: schwarzer Rock und grau gesprenkelte Hose – mit einer kuriosen Variante allerdings. Er hatte braune Lederhandschuhe an, die er bei unserem Anblick jedoch sofort abstreifte; als wir eintraten, legte er sie auf den Tisch in der Halle. Ich verfuge, wie mein Freund Watson wohl schon angemerkt hat, über ungewöhnlich scharfe Sinne; ein schwacher, aber beißender Geruch ließ sich wahrnehmen. Er schien von dem Tisch in der Halle auszugehen. Ich wandte mich um, legte meinen Hut dort ab, wischte ihn herunter und bückte mich, um ihn aufzuheben; dabei gelang es mir, meine Nase bis auf dreißig Zentimeter an die Handschuhe heranzubringen. Ja, unzweifelhaft waren sie die Quelle des seltsamen teerartigen Geruchs. Als ich ins Arbeitszimmer weiterging, hatte ich den Fall bereits gelöst. Ach, daß ich mir so in die Karten schauen lassen muß – nun, da ich meine Geschichte selbst erzähle! Denn nur indem Watson solche Glieder in der Kette zu verheimlichen pflegte, konnte er seine effekthascherischen Finale inszenieren.
Colonel Emsworth war nicht in seinem Zimmer; auf Ralphs Anmeldung hin kam er jedoch ziemlich rasch herbei. Wir vernahmen seine schnellen, schweren Schritte im Flur. Die Tür flog auf, und mit gesträubtem Bart und verzerrter Miene stürmte er herein – der schrecklichste alte Mann, den ich jemals gesehen habe. Er hielt unsere Visitenkarten in der Hand; dann zerriß er sie und trampelte auf den Fetzen herum.
»Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie elender Schnüffler, daß Sie Hausverbot haben? Wagen Sie es ja nicht, Ihre verwünschte Visage hier noch einmal blicken zu lassen! Wenn Sie noch einmal ohne meine Erlaubnis hier eindringen, mache ich von meinem Hausrecht Gebrauch, und wenn ich dabei Gewalt anwenden muß. Ich schieße Sie nieder, Sir! Bei Gott, das tue ich! Was Sie betrifft, Sir« – hierbei wandte er sich mir zu –, »so gilt die gleiche Warnung auch für Sie. Mir ist bekannt, was für einen nichtswürdigen Beruf Sie ausüben; aber Sie müssen sich für Ihre angeblichen Talente ein anderes Betätigungsfeld suchen. Hier ist dafür kein Platz.«
»Ich werde erst dann hier weggehen«, sagte mein Klient fest, »wenn ich aus Godfreys eigenem Mund erfahre, daß man ihn nicht gefangenhält.«
Unser unfreiwilliger Gastgeber läutete die Glocke.
»Ralph«, sagte er, »rufen Sie die Grafschaftspolizei an und bitten Sie den Inspektor, uns zwei Polizisten zu schicken. Sagen Sie ihm, wir hätten Einbrecher im Haus.«
»Einen Augenblick«, sagte ich. »Sie müssen sich darüber im klaren sein, Mr. Dodd, daß Colonel Emsworth im Recht ist und daß wir uns außerhalb der Legalität befinden, wenn wir in seinem Haus bleiben. Andererseits sollte er einsehen, daß Ihr Verhalten ausschließlich von der Sorge um seinen Sohn bestimmt ist. Ich wage allerdings zu hoffen, daß ich Colonel Emsworth zu einer Änderung seiner Ansicht bewegen könnte, wenn man mir gestattete, mich fünf Minuten mit ihm zu unterhalten.«
»So leicht ändern sich meine Ansichten nicht«, sagte der alte Kämpe. »Ralph, tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Worauf, zum Teufel, warten Sie noch? Rufen Sie die Polizei an!«
»Nichts dergleichen«, sagte ich, indem ich mich mit dem Rücken zur Tür stellte. »Jede polizeiliche Einmischung würde genau die Katastrophe heraufbeschwören, die Sie so sehr furchten.« Ich zückte mein Notizbuch und kritzelte ein einzelnes Wort auf ein loses Blatt. »Das«, sagte ich, als ich es Colonel Emsworth reichte, »hat uns hierhergeführt.«
Er starrte das Geschriebene an, mit einem Gesicht, aus dem jeder Ausdruck, außer Verblüffung, gewichen war.
»Woher wissen Sie das?« keuchte er, schwer auf seinen Stuhl sinkend.
»Es ist meine Aufgabe, Bescheid zu wissen. Das gehört zu meinem Beruf.«
Er saß in tiefen Gedanken da, wobei er sich mit der hageren Hand den zottigen Bart zauste. Dann machte er eine resignierende Geste.
»Na schön, wenn Sie Godfrey unbedingt sehen wollen – bitte sehr. Aber ich habe damit nichts zu tun; Sie haben mich dazu gezwungen. Ralph, richten Sie Mr. Godfrey und Mr. Kent aus, daß wir in fünf Minuten bei ihnen sind.«
Als diese Zeitspanne um war, gingen wir den Gartenweg hinunter, bis wir uns vor dem mysteriösen Haus an seinem Ende befanden. An der Tür stand ein kleiner bärtiger Mann mit ziemlich verblüfftem Gesichtsausdruck.
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