Mehr konnte ich nicht tun, und ich verbrachte eine unruhige Nacht, wobei ich mir die Sache durch den Kopf gehen ließ und versuchte, eine zu den Tatsachen passende Theorie zu finden. Am nächsten Tag kam mir der Colonel etwas versöhnlicher vor, und als seine Frau die Bemerkung machte, daß es in der Umgebung einige Sehenswürdigkeiten gebe, nutzte ich die Gelegenheit zu fragen, ob ihnen eine weitere Übernachtung sehr ungelegen käme. Die etwas widerwillige Zustimmung des Alten gewährte mir einen ganzen Tag, an dem ich meine Beobachtungen machen konnte. Ich war schon völlig davon überzeugt, daß sich Godfrey irgendwo in der Nähe versteckt hielt; aber wo und warum blieb noch herauszufinden.
Das Haus ist so groß und weitläufig, daß man darin ein Regiment verstecken könnte, ohne daß jemand was merkt. Wenn sich dort das Geheimnis verbarg, würde es mir schwerfallen, es zu ergründen. Aber die Tür, die ich zugehen gehört hatte, befand sich mit Sicherheit nicht im Haus. Ich mußte also den Garten auskundschaften und sehen, was ich herausfinden konnte. Das war ohne weiteres möglich; die alten Leutchen waren nämlich mit sich selbst beschäftigt und kümmerten sich nicht um mich.
Es gibt mehrere kleine Nebengebäude, aber am Gartenende befindet sich ein einzelnes, ziemlich großes – groß genug, um einem Gärtner oder Wildheger als Wohnung zu dienen. War das vielleicht die Stelle, von der das Geräusch der zugehenden Tür gekommen war? Ich ging so unbekümmert darauf zu, als ob ich ziellos im Gelände herumspazierte. Als ich mich näherte, kam ein kleiner, lebhafter, bärtiger Mann heraus, in einem schwarzen Mantel und mit einer Melone auf dem Kopf – ganz und gar nicht der Typ eines Gärtners. Zu meiner Überraschung schloß er die Tür hinter sich ab und steckte den Schlüssel ein. Dann schaute er mich ziemlich verblüfft an.
›Sind Sie hier zu Besuch?‹ fragte er.
Ich bejahte und erklärte, ich sei ein Freund von Godfrey.
›Wie schade, daß er verreist ist; er hätte sich nämlich bestimmt gefreut, mich zu sehen‹, fuhr ich fort.
›Ja doch. Ganz bestimmt‹, sagte er mit einer etwas schuldbewußten Miene. ›Aber Ihr Besuch läßt sich zweifellos zu einem günstigeren Zeitpunkt wiederholen.‹ Er ging weiter, doch als ich mich umdrehte, bemerkte ich, daß er am anderen Ende des Gartens, halb verdeckt von den Lorbeerbüschen, stehenblieb und mich beobachtete.
Als ich an dem kleinen Haus vorbeikam, schaute ich es mir gut an; die Fenster waren mit schweren Gardinen verhängt, und soweit man etwas erkennen konnte, war es leer. Womöglich würde ich mir mein eigenes Spiel verderben und sogar aus dem Haus gewiesen werden, wenn ich allzu keck vorginge; denn ich war mir bewußt, daß ich immer noch beobachtet wurde. Ich schlenderte also zum Haus zurück und wartete die Nacht ab, ehe ich meine Untersuchungen fortsetzte. Als alles dunkel und still war, schlüpfte ich aus meinem Fenster und begab mich so leise wie möglich zu dem mysteriösen Gartenhäuschen.
Ich habe schon erwähnt, daß die Fenster mit schweren Gardinen verhängt waren, aber nun waren auch noch die Läden geschlossen. Durch einen drang jedoch etwas Licht, daher konzentrierte ich mich auf dieses Fenster. Ich hatte Glück; die Gardine war nämlich nicht ganz zugezogen, und der Laden hatte eine Ritze, so daß ich ins Zimmer hineinsehen konnte. Es war eine recht freundliche Unterkunft, mit heller Lampe und flackerndem Kaminfeuer. Mir gegenüber saß der kleine Mann, den ich morgens getroffen hatte. Er rauchte Pfeife und las eine Zeitung ...«
»Was für eine Zeitung?« fragte ich.
Mein Klient schien sich über die Unterbrechung seines Berichtes zu ärgern.
»Spielt das eine Rolle?« fragte er.
»Es ist von größter Bedeutung.«
»Ich habe wirklich nicht darauf geachtet.«
»Vielleicht haben Sie bemerkt, ob es eine großformatige Tageszeitung war oder eine kleinere von der Art der Wochenblätter.«
»Jetzt, wo Sie es erwähnen – sie war nicht groß. Es könnte der Spectator gewesen sein. Wie auch immer, ich habe solchen Details nur geringe Beachtung geschenkt; ein zweiter Mann saß nämlich da, mit dem Rücken zum Fenster, und ich könnte schwören, daß es sich bei diesem zweiten Mann um Godfrey handelte. Sein Gesicht konnte ich zwar nicht sehen, aber die Neigung seiner Schultern war ja ein altgewohnter Anblick für mich. Er saß dem Kaminfeuer zugekehrt und stützte den Kopf auf den Ellbogen; diese Haltung hatte etwas sehr Melancholisches. Ich war noch unschlüssig, was ich tun sollte, als ich einen harten Schlag auf die Schulter bekam und Colonel Emsworth neben mir stand.
›Hier entlang, Sir!‹ sagte er mit gedämpfter Stimme. Schweigend ging er zum Haus, und ich folgte ihm auf mein Zimmer. In der Halle hatte er noch einen Fahrplan mitgenommen.
›Um acht Uhr dreißig geht ein Zug nach London‹, sagte er. ›Der Wagen steht um acht am Tor.‹
Er war weiß vor Wut, und ich fühlte mich tatsächlich so elend, daß ich nur noch ein paar zusammenhanglose Entschuldigungen stammeln konnte; ich versuchte mich zu rechtfertigen, indem ich die Sorge um meinen Freund geltend machte.
›Die Sache steht außer jeder Diskussion‹, sagte er schroff. ›Sie haben sich auf höchst verwerfliche Weise in die Privatsphäre unserer Familie eingemischt. Sie waren als Gast hier und haben sich wie ein Schnüffler benommen. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, Sir, außer daß ich nicht wünsche, Sie jemals wiederzusehen.‹
Bei diesen Worten habe ich die Fassung verloren, Mr. Holmes, und ich sprach wohl ziemlich hitzig.
›Ich habe Ihren Sohn gesehen, und ich bin überzeugt, daß Sie ihn aus irgendwelchen nur Ihnen bekannten Gründen vor der Welt verstecken. Ich habe keine Ahnung, warum Sie ihn derartig von der Außenwelt abschneiden, aber ich bin sicher, daß er kein freier Mensch mehr ist. Ich mache Sie darauf aufmerksam, Colonel Emsworth, daß ich von dem Versuch, dem Geheimnis auf den Grund zu kommen, erst ablassen werde, wenn ich von Sicherheit und Wohlergehen meines Freundes überzeugt bin, und ich werde mich von dem, was Sie äußern oder tun könnten, keineswegs einschüchtern lassen.‹
Der alte Knabe machte ein Gesicht wie ein Teufel, und ich dachte wirklich, er sei drauf und dran, mich anzugreifen. Ich habe ja schon erwähnt, daß er ein hagerer, grimmiger alter Riese ist, und obwohl ich kein Schwächling bin, hätte ich bestimmt Mühe gehabt, mich gegen ihn zu behaupten. Wie auch immer, nach einem langen wütenden Blick machte er auf dem Absatz kehrt und ging aus dem Zimmer. Was mich betrifft, so nahm ich den erwähnten Morgenzug, fest entschlossen, Sie nach einer schriftlichen Anmeldung sofort aufzusuchen und um Rat und Hilfe zu bitten.«
Dies also war das Problem, das mir mein Besucher vorlegte. Seine Lösung bot, wie der gewitzte Leser längst gemerkt haben wird, nur geringe Schwierigkeiten, denn die Zahl der Möglichkeiten, die ausgeschlossen werden mußten, um zum Kern der Sache vorzustoßen, war sehr begrenzt. Bei aller Einfachheit mögen einige interessante und ungewöhnliche Einzelheiten des Problems seine Protokollierung dennoch rechtfertigen. Ich begann nun, die Lösungsmöglichkeiten einzugrenzen, indem ich mich gewohnheitsgemäß der logischen Analyse bediente.
»Die Bediensteten«, fragte ich, »wie viele gab es im Haus?«
»Soviel ich weiß, sind da nur der alte Butler und seine Frau. Man lebt anscheinend sehr einfach.«
»Dann gab es also keinen Diener in dem Gartenhaus?«
»Nein, es sei denn, der kleine Mann mit dem Bart hätte diese Funktion. Aber der sah eher wie eine höhergestellte Person aus.«
»Das gibt doch sehr zu denken. Bestanden irgendwelche Hinweise dafür, daß Nahrungsmittel vom einen Haus zum anderen befördert wurden?«
»Jetzt, wo Sie es erwähnen – ich habe in der Tat gesehen, wie der alte Ralph den Gartenweg in Richtung dieses Häuschens hinuntergegangen ist und dabei einen Korb getragen hat. Der Gedanke an Nahrungsmittel ist mir dabei allerdings nicht gekommen.«
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