1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 »Der Sünden Sold 21, Watson – der Sünden Sold!« sagte er. »Früher oder später ereilt er jeden. Weiß Gott, da waren der Sünden genug«, fügte er hinzu; er nahm einen braunen Band vom Tisch. »Hier ist das Buch, von dem die Frau gesprochen hat. Wenn das die Heirat nicht verhindern kann, dann nützt überhaupt nichts mehr. Aber das wird es, Watson. Das muß es. Keine Frau mit Selbstachtung könnte so etwas ertragen.«
»Es ist wohl das Tagebuch seiner Liebschaften?«
»Oder das Tagebuch seiner Begierden. Nennen Sie es, wie Sie wollen. In dem Augenblick, da die Frau uns davon erzählte, erkannte ich, welch eine enorme Waffe es wäre, wenn wir seiner nur habhaft werden könnten. Ich deutete damals meine Absichten nicht an, denn diese Frau hätte sie möglicherweise ausgeplaudert. Aber ich grübelte darüber nach. Dann verschaffte dieser Anschlag auf mich die günstige Gelegenheit, den Baron glauben zu lassen, gegen mich seien keine Vorsichtsmaßnahmen mehr nötig. All das gelang bestens. Ich hätte noch ein bißchen länger gewartet, aber seine geplante Amerikareise zwang mich zu handeln. Ein so kompromittierendes Dokument hätte er niemals zurückgelassen. Deshalb mußten wir sofort zu Werke gehen. Nächtlicher Einbruch kam nicht in Frage. Dagegen war er gewappnet. Aber abends gab es eine Chance, sofern ich nur sicher sein konnte, daß seine Aufmerksamkeit anderweitig in Anspruch genommen war. Und da kamen Sie und Ihre blaue Schale ins Spiel. Aber ich mußte zweifelsfrei wissen, wo sich das Buch befand, und mir war klar, daß mir nur wenige Minuten zum Handeln blieben, denn meine Zeit war danach bemessen, wie gut Sie sich in chinesischer Töpferkunst auskannten. Deshalb habe ich im letzten Moment das Mädchen mitgenommen. Woher sollte ich denn ahnen, was das für ein Päckchen war, das sie so sorgsam unter dem Mantel trug? Ich dachte, sie sei ganz und gar meiner Geschäfte wegen gekommen; aber anscheinend hatte sie auch noch ein eigenes zu besorgen.«
»Er hat geahnt, daß Sie mich geschickt haben.«
»Das stand zu befürchten. Aber Sie haben ihn gerade noch lange genug hingehalten, daß ich das Buch holen konnte – wenn auch nicht lange genug, um unbemerkt zu entkommen. Ah, Sir James, freut mich sehr, daß Sie gekommen sind!«
Unser vornehmer Freund war auf eine vorangegangene Einladung hin erschienen. Mit größter Aufmerksamkeit lauschte er Holmes' Bericht über das, was geschehen war.
»Sie haben Wunder vollbracht – Wunder!« rief er, als er die Geschichte gehört hatte. »Wenn aber diese Verletzungen so schrecklich sind, wie Dr. Watson sie schildert, dann läßt sich unser Ziel, die Heirat zu vereiteln, doch gewiß ohne den Einsatz dieses scheußlichen Buches erreichen.«
Holmes schüttelte den Kopf.
»Frauen vom Typ de Merville reagieren anders. Sie würde ihn als entstellten Märtyrer nur um so mehr lieben. Nein, nein. Seine moralische Seite, nicht seine physische, gilt es zu zerstören. Dieses Buch wird sie auf die Erde zurückholen – ich wüßte nicht, womit man dies sonst noch erreichen könnte. Er hat es mit eigener Hand geschrieben. Daran kann sie nicht vorbei.«
Sir James nahm sowohl das Buch als auch die kostbare Schale mit. Da ich selbst überfällig war, ging ich mit ihm hinunter auf die Straße. Ein Brougham 22erwartete ihn bereits. Er sprang hinein, gab dem mit einer Kokarde geschmückten Kutscher hastig eine Anweisung und fuhr rasch davon. Er schwang seinen Mantel halb aus dem Fenster, um das Wappenschild auf dem Paneel zu verhüllen; aber nichtsdestoweniger hatte ich es im grellen Licht von der Lünette über unserer Haustür bereits erkannt. Vor Überraschung rang ich nach Luft. Dann machte ich kehrt und lief die Treppe zu Holmes' Wohnung hinauf.
»Ich habe herausgefunden, wer unser Klient ist«, rief ich und wollte mit meiner großen Neuigkeit herausplatzen. »Wahrhaftig, Holmes, es ist ...«
»Es ist ein treuer Freund und ritterlicher Gentleman«, sagte Holmes und hob Einhalt gebietend eine Hand. »Das soll uns jetzt und für immer genügen.«
Ich weiß nicht, auf welche Weise man sich des inkriminierenden Buches bediente. Vielleicht hat Sir James die Sache bewerkstelligt. Andererseits ist es wahrscheinlicher, daß eine so delikate Aufgabe dem Vater der jungen Lady anvertraut wurde. Die Wirkung jedenfalls war ganz wie erwünscht. Drei Tage später erschien in der Morning Post ein Artikel, der verlautbarte, daß die Eheschließung zwischen Baron Adelbert Gruner und Miss Violet de Merville nicht stattfinden werde. Dasselbe Blatt brachte auch das erste polizeigerichtliche Verhör 23im Verfahren gegen Miss Kitty Winter aufgrund der schweren Anklage wegen Vitriolspritzens. Während der Verhandlung kamen jedoch derartig mildernde Umstände an den Tag, daß das Gericht, wie man sich erinnern wird, die geringste Strafe verhängte, die bei einem solchen Vergehen möglich war. Sherlock Holmes drohte eine Strafverfolgung wegen Einbruchs; aber wenn der Zweck gut und der Klient illuster genug ist, wird sogar die starre britische Rechtsprechung human und elastisch. Mein Freund hat bis jetzt noch nicht auf der Anklagebank gesessen.
Die Ideen meines Freundes Watson sind begrenzt, aber um so hartnäckiger hält er an ihnen fest. Seit langem schon drängt er mich, eines meiner Erlebnisse einmal selbst niederzuschreiben. Womöglich habe ich diese Aufsässigkeit ein wenig provoziert, da ich schon oft Ursache hatte, ihn auf die Oberflächlichkeit seiner Darstellungen hinzuweisen und ihn dafür zu tadeln, daß er dem Massengeschmack willfahre, anstatt sich streng an Fakten und Personen zu halten. »Versuchen Sie es doch selbst, Holmes!« gab er darauf zurück, und ich muß bekennen, daß ich nun, die Feder in der Hand, doch einzusehen beginne, daß der Stoff auf eine Weise präsentiert werden muß, die das Interesse des Lesers zu wecken vermag. Diesen Zweck kann die folgende Begebenheit kaum verfehlen, da sie zu den seltsamsten Fällen meiner Sammlung zählt – auch wenn sich zufälligerweise darüber nichts in Watsons Sammlung findet. Wo ich schon von meinem alten Freund und Biographen spreche, möchte ich die Gelegenheit ergreifen, um folgendes anzumerken: Wenn ich mich bei meinen vielfältigen kleinen Untersuchungen mit einem Begleiter belastet habe, so nicht etwa aus Gefühlsduselei oder aus einer Kaprice heraus, sondern weil Watson einige bemerkenswerte Eigenschaften besitzt, denen er – bescheiden, wie er ist – in seiner übertriebenen Wertschätzung meiner Leistungen bisher nur geringe Beachtung geschenkt hat. Ein Verbündeter, der einem Schlußfolgerungen und Vorgehensweise vorwegnimmt, ist immer gefährlich; aber jemand, dem jede Entwicklung stets als Überraschung daherkommt und dem die Zukunft allzeit ein versiegeltes Buch ist, stellt in der Tat einen idealen Gehilfen dar.
Meinem Notizbuch entnehme ich, daß ich im Januar 1903, just nach Beendigung des Burenkrieges 24, Besuch von Mr. James M. Dodd erhielt, einem großen, frischen, sonnengebräunten und aufrechten Briten. Der gute Watson hatte mich damals um einer Gattin willen verlassen, im Lauf unserer Kameradschaft die einzige eigennützige Tat, deren ich mich entsinnen kann. Ich war allein.
Gewöhnlich sitze ich mit dem Rücken zum Fenster und plaziere meine Besucher auf den Stuhl gegenüber, wo das Licht voll auf sie fällt. Mr. James M. Dodd schien ein wenig in Verlegenheit, wie das Gespräch zu beginnen sei. Ich machte keinen Versuch, ihm zu helfen, denn sein Schweigen ließ mir mehr Zeit zur Beobachtung. Es hat sich als klug erwiesen, die Klienten mit einer Kostprobe meiner Fähigkeiten zu beeindrucken, daher teilte ich ihm einige meiner Schlußfolgerungen mit.
»Aus Südafrika, Sir, stelle ich fest.«
»Ja, Sir«, antwortete er ziemlich überrascht.
»Imperial Yeomanry 25, nehme ich an.«
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