Wahrscheinlich sind wir alle schon mit dem Satz »Entscheiden Sie sich« bedrängt worden, wenn wir in unseren Gefühlen für jemanden oder etwas schwankten. So absurd es ist, unseren Verstand heranzuziehen, um unsere Gefühle zu bestimmen, so unmöglich ist es, die Größe, Form und den Rhythmus der Wellen des Ozeans zu kontrollieren.
Und obwohl wir uns entscheiden können, wie wir auf unsere Gefühle reagieren, können wir unsere emotionalen Reaktionen nicht kognitiv vorhersagen. Wenn ein geliebter Mensch Sie verletzt, werden Sie sich instinktiv wütend fühlen, auch wenn Sie Ihre Wut sofort unterdrücken. Viele Überlebende wollen es nicht wahrhaben, weil ihre Wut in der »Kleinkindzeit« so gründlich ausgelöscht wurde, dass ihnen ihre wütenden Reflexe nicht mehr bewusst sind. Dennoch nehmen sie unbewusst immer noch Wut wahr, wenn sie verletzt werden, egal wie sehr sie sich entschlossen haben liebevoll zu sein.
Wir können emotional nicht gesunden, wenn wir uns nicht gegen die wehren, die versuchen, uns wegen unserer Ambivalenz einzuschüchtern. Wir müssen uns weigern, so zu tun, als seien wir emotional absolut eindeutig. Überlebende, die ihre gesunde Ambivalenz verteidigen wollen, können auf einen »Entscheide-dich-mal-Angriff« reagieren, indem sie antworten, dass es sich um eine emotionale Angelegenheit handelt, die eindeutig keine Frage der Vernunft oder der Entscheidung ist.
Ich erinnere mich daran, wie man mir deutlich machte, dass ich mich für meine eigene natürliche Ambivalenz in der Kindheit zu schämen hätte. Wenn ich sagte, dass mir etwas in meiner Lieblingssendung im Fernsehen nicht gefiel, sagte man mir, dass ich dumm sei, sie mir anzuschauen. Wenn ich mir das Essen bis auf die Dosenerbsen hatte schmecken lassen, wurde mir gesagt, dass ich wohl keinen Hunger mehr hätte und keinen Nachtisch wolle. Wenn ich meiner Mutter anvertraute, dass ich auf meinen besten Freund wütend war, sagte sie mir, ich solle nicht mehr mit ihm spielen. Als meine Wut schließlich nachließ und ich mich wieder mit ihm anfreundete, schimpfte meine Mutter, die keinen Freund hatte: »Du kleiner Lügner, du hast mir gesagt, dass du ihn nicht magst! Du bist selber schuld, wenn er dir wieder wehtut.«
Was meine Mutter an meiner emotionalen Vielfalt als fehlerhaft und unzuverlässig brandmarkte, war in Wirklichkeit die noch immer intakte Ambivalenz eines gesunden Kindes. Hätte sie meine Gefühle als normal behandelt und mir geholfen, Dampf abzulassen und sie zu lösen, hätte ich nicht Wochen der einsamen Isolation gebraucht, um mich mit meinen Freunden »zu versöhnen«.
Familiäre und gesellschaftliche Einflüsse zerstörten schließlich meine Toleranz für Ambivalenz, und ich erlag dem Glauben, dass »wahrhaft« Liebende sich nie über den anderen ärgern. Für mich manifestierte sich »Klugheit« darin, eine Beziehung beim ersten Anzeichen widersprüchlicher, nicht-liebender Gefühle zu verlassen. Hätte es diese Sprüche-Schilder damals schon gegeben, hätte ich sicherlich irgendein albernes Ding mit der Aufschrift »Liebe bedeutet, sich nie entschuldigen zu müssen« gekauft.
Viele erwachsene Kinder haben unrealistische, polarisierte Erwartungen an die Liebe. Überzeugt davon, dass es in der Liebe keine Disharmonie geben sollte, interpretieren sie ihre ambivalenten Gefühle manchmal als Beweis dafür, dass sie zu unvollkommen sind, um lieben zu können. In den extremsten Fällen betrachten sie ihre Ambivalenz als einen Indikator für geistige Instabilität!
Intoleranz gegenüber Ambivalenz tötet Beziehungen. Sie zerstört sie durch einen Prozess, der als Spaltung bekannt ist. Spaltung tritt auf, wenn Gefühle der Enttäuschung durch die stillschweigende Übereinkunft unter Partnern, nur wertschätzende Gefühle zuzulassen, unterdrückt (abgespalten) werden.
Abgespaltene Emotionen lösen sich nicht von selbst auf. Sie häufen sich allmählich in explosiven Ausmaßen an, bis sie durch eine relativ geringe Beschwerde ausgelöst werden. Wenn sie störend in unser Bewusstsein dringen, verschwinden unsere Liebesgefühle, wir polarisieren in das entgegengesetzte emotionale Extrem und fühlen uns von unserem Partner völlig entfremdet.
Wenn unser Kontingent an verdrängter Enttäuschung zu groß ist oder zu hasserfüllt ausbricht, kehren unsere Liebesgefühle möglicherweise nicht zurück, und die Spaltung in Entfremdung kann dauerhaft sein.
Wenn die Partner nicht zu destruktiv auf die Spaltung reagieren, können die Liebesgefühle schließlich zurückkehren. Wenn sie jedoch mit der ursprünglichen Intoleranz gegenüber Ambivalenz einhergehen, wird es schließlich erneut zu einer Spaltung kommen.
Die meisten Beziehungen überleben nur eine begrenzte Anzahl dieser katastrophalen »Spaltungen«. Einige erleben jedoch anhaltende emotionale Achterbahnen mit extremen Höhen und Tiefen der Zuneigung und Entfremdung. Solche Beziehungen töten nach und nach die Fähigkeit beider Partner, Freude am anderen und – im schlimmsten Fall – am Leben im Allgemeinen zu finden.
Beziehungen, die aufgrund extremer Spaltung zerbrochen sind, werden manchmal wiederbelebt, wenn einer oder beide Partner lernen zu trauern. Trauer setzt alte verletzte Gefühle sicher frei und kehrt den Polarisierungsprozess der Spaltung auf natürliche Weise um. Alte Partner entdecken dann vielleicht ihre ursprüngliche Anziehungskraft wieder, die sie füreinander empfunden haben, und werden sogar wieder Freunde. Auf der anderen Seite bleiben diejenigen, die nicht trauern, oft dauerhaft im Hass auf ihre / ihren »Ex« stecken. Sie finden nie wieder zu der Liebe zurück, die sie eigentlich für ihren Partner hatten – und unbewusst oft immer noch haben.
Es gibt noch eine andere Art der Spaltung, die Beziehungen häufig tötet, nämlich die Intoleranz gegenüber dem Gefühl, für sich sein zu wollen. Eine solche Intoleranz erzeugt unterdrückte Verhaltensweisen, die Beziehungen ersticken. Partner müssen sich gegenseitig ambivalente Schwankungen in den Bedürfnissen nach Nähe und dem Alleinsein erlauben. Wenn nur Gefühle der Nähe zugelassen werden, kann die Intimität in einer Beziehung sterben, wenn einer der Partner sich plötzlich in einen extremen Rückzug begibt, um nicht zu ersticken.
Ambivalenz und Abspaltung sind entgegengesetzte Reaktionen auf emotionale Polaritäten. Sie gibt es selten in ihrer Reinform. Spaltung erfolgt in unterschiedlichem Ausmaß entlang eines Kontinuums zwischen bloßer Ambivalenz und extremer Dissoziation. Sie kann sich zwischen der gleichzeitigen Empfindung gegensätzlicher Emotionen und dem ewigen Festklammern an einem Gefühl auf Kosten seines Gegenteils zeigen. Zum Ausdruck kommen kann sie auch bei einem plötzlichen Vulkanausbruch von Bitterkeit zwischen dem Gefühl von Liebe und Hass gegenüber einem Ehepartner bis hin zur Zerstörung einer »perfekten« Ehe.
»Ambivalieren« – ein Begriff, den ich von einem Freund übernommen habe – ist eine weniger extreme Form der Spaltung. Ambivalieren ist ein relativ schnelles Hin- und Herpendeln zwischen gegensätzlichen Empfindungen. Meine Freundin parodierte für mich einst das extreme Ambivalieren zwischen ihren emotionalen Polaritäten mit folgendem Dialog:
Ich will ihn.
Nein, ich will ihn nicht! Er verletzt mich zu sehr.
Doch manchmal fühle ich mich gut mit ihm.
Ja, aber er saugt dabei all’ meine Energie auf.
Aber er ist so ein guter Typ.
Nein, ist er nicht! Er ist ein Trottel!
Aber seine liebevolle Seite würde zum Vorschein kommen, wenn ich bei ihm einziehen würde.
Huch! Das wäre eine Katastrophe. Ich wünschte, er würde nach Alaska ziehen!
Oh Gott, ich würde ihn vermissen! Es würde mich ein Vermögen kosten ihn zu besuchen.
Ich liebe ihn!
Ich hasse ihn!
Ich liebe ihn!
Ich hasse ihn!
Liebe ich ihn?
Hasse ich ihn?
Wenn wir unsere normale Ambivalenz akzeptieren, erreichen wir ein tieferes Selbstverständnis und treffen bessere Entscheidungen in komplexen Lebensfragen. Das Zulassen ambivalenter Gefühle ist einer der Heilungsprozesse der Psychotherapie. Wenn Klienten ermutigt werden, ihre widersprüchlichen Gefühle in Bezug auf Berufs- oder Beziehungsfragen gründlich zu erforschen, verbinden sie sich schließlich mit einem tiefen intuitiven Gefühl dafür, was für sie am besten ist.
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