Die Anerkennung des Inselbegabten bezieht sich fast ausschließlich auf seine perfekte Beherrschung der Zahlen, genauso wie das Selbstwertgefühl des Durchschnittsamerikaners stark von seiner Fähigkeit abhängt, perfekt glücklich zu erscheinen und sich vollkommen glücklich zu verhalten. Für viele von uns bedeutet Glücklichsein inzwischen, sich gut zu fühlen, was wiederum bedeutet, sich zu weigern, sich schlecht zu fühlen. Die Gesellschaft versorgt diejenigen von uns, die sich verzweifelt glücklich und gut fühlen wollen, mit unzähligen Substanzen und Aktivitäten, um jeden Zweifel an unserer Illusion vom perfekten Wohlbefinden zu korrigieren.
Viele Menschen opfern auf der Suche nach Glück lebenswichtige Aspekte ihres Lebens und fügen sich dabei schweren Schaden zu. Manche opfern das Wohlbefinden des nächsten Tages dem Kater, den sie sich zugezogen haben, weil sie sich am Abend zuvor mit übermäßigem Essen, Drogen oder Alkohol vollgestopft haben. Einige verpfänden ihre finanzielle Sicherheit an den momentanen Rausch von Impulskäufen im Austausch gegen die ständige Angst vor unbezahlbaren Schulden. Andere riskieren, die Liebe zu ihrem Partner zu zerstören, wenn sie sich in einer Affäre ein schnelles, gutes Gefühl verschaffen.
In unserer Gesellschaft manifestiert sich der Perfektionismus auf der emotionalen Ebene, indem uns ständig wünschenswerte Gefühle vorgeführt werden. Wenn wir unsere gesunde, ganzheitlich fühlende menschliche Natur zurückgewinnen wollen, müssen wir unsere unheilige Glaubenstreue aufgeben, dass psychische Gesundheit bedeutet, ständig glücklich zu sein. Wir müssen den gefährlichen kleinen, gelben Smiley-Button mit dem simplen Lächeln von unserem Revers nehmen und Menschen meiden, die versuchen, unsere Stimmungen mit dem banalen Ratschlag der zuckersüßen Popmusik »Don’t worry, be happy!« »in Ordnung zu bringen«.
Während mein Drang zum Perfektionismus abnimmt und »zu einem Schatten seines früheren Selbst« wird, lasse ich manchmal mit Freuden das Gedicht von Kabir in mir nachklingen:
Der blaue Himmel weitet sich mehr und mehr
Und das bekannte Gefühl des Versagens verschwindet;
Die Schädigung, die ich mir selbst zugefügt habe, lässt nach;
Millionenfach bricht die Sonne mit ihrem Licht hervor.
Ein unendlicher Reichtum der Gefühle wartet auf diejenigen, die sich vor dem emotionalen Bankrott retten, nur auf einen Teil des emotionalen Spektrums fixiert zu sein. Im vollen emotionalen Spektrum des menschlichen Fühlens zu schwelgen ist das Thema des nächsten Kapitels.
Kapitel 3
Das Tao der Gefühle
Das Leben des Körpers ist Fühlen: sich lebendig, pulsierend, gut, begeistert, wütend, traurig, fröhlich und schließlich zufrieden fühlen. Es ist das Fehlen von Gefühlen oder die Verwirrung der Gefühle, was Menschen zur Therapie bringt .
— Alexander Lowen
Dieses Buch soll keine endgültige Abhandlung über die emotionale Natur des Menschen sein, zumal das Fühlen sich oft jenseits des Verständnisses durch Nachdenken abspielt. Tatsächlich hat Freuds herausragender Schüler Carl Jung die Theorie aufgestellt, dass der gefühlsmäßige, emotionale Teil unserer Psyche in seiner Natur dem denkenden, logischen Teil entgegengesetzt ist. Der Dichter Antonio Machado äußerte sich ähnlich:
In unseren Seelen
bewegt sich alles unter der Führung einer geheimnisvollen Hand.
Wir wissen nichts von unserer Seele über den Verstand …
Die Sprache spiegelt nie vollständig die emotionale Erfahrung wider. Und Englisch ist besonders unzulänglich was Begriffe betrifft, die die Feinheiten der emotionalen Erfahrung erfassen. Es gibt zum Beispiel viele verschiedene Arten von Tränen: Tränen des Verlusts, der Erleichterung, des körperlichen Schmerzes, des Mitgefühls, der Freude, des Stolzes, der Dankbarkeit und der Ehrfurcht vor dem Schönen. Ebenso gibt es verschiedene Arten des Lachens: das brüllende Lachen vor Freude, das Glucksen der Erleichterung, das Giggeln aus Albernheit, das Kichern der Nervosität, das Feixen des Spottes und das zwiespältige Lachen, das durch Kitzeln hervorgerufen wird. Auch Wut hat eine Vielfalt an Schattierungen, als erbitterte Selbstbehauptung, als Schmerz, Hass oder zorniger Selbstschutz, als Verärgerung wegen Herabsetzung, empörtes Eintreten für einen anderen oder als Entrüstung über alles Ungerechte.
So unzulänglich die Sprache für die vollständige Vermittlung emotionaler Erfahrungen ist, so gibt es doch Wege wie Worte, insbesondere die Poesie, uns unseren Gefühlen näherzubringen. Um eine alte Weisheit des Ostens zu paraphrasieren:
Auch wenn es nicht der Mond ist, lenkt der Zeigefinger unsere Wahrnehmung auf die Schönheit des Mondes, ebenso lenken gezielte Worte unser Bewusstsein auf den Reichtum unserer Gefühle, auch wenn die Sprache selbst keine Emotion ist.
In diesem Sinne hoffe ich, dass mein Lunar-Beispiel in Bezug auf die Natur der Gefühle Sie motiviert, den Reichtum Ihrer vollen emotionalen Erfahrung auszugraben. (Ich verwende den Begriff lunar (= Mond), weil der Mond ein altes Symbol für Gefühle ist.)
Und obwohl wir alle in unserer emotionalen Natur so einzigartig sind wie die Wellenmuster am Strand, gibt es bedeutende Ähnlichkeiten in der Art, wie wir fühlen. Einige dieser Gemeinsamkeiten werden hier untersucht, andere sind nur durch eine persönliche Öffnung für die Gefühle zu begreifen, wieder andere sind rätselhaft und bleiben vielleicht dauerhaft jenseits des Bereichs des Verstehens.
Kürzlich habe ich dir in die Augen geschaut, oh Leben!
Und ich schien im Unergründlichen zu versinken .
Aber du hast mich mit einem goldenen Stab herausgezogen .
Du hast spöttisch gelacht, als ich dich unergründlich nannte .
Alle Fische reden so, sagtest du .
Was sie nicht begreifen können, ist unergründlich .
— Unbekannter Autor
Wenn wir dem erlernten Krieg gegen unsere Gefühle eine Amnesie aussprechen, verbessern wir unsere Gesundheit in jeder Hinsicht. Wir werden lebendig, wenn wir die Energie zurückgewinnen, die wir dafür aufgewendet haben, unsere Emotionen gewissenhaft zu kontrollieren oder sie in hygienische Formen von Nettigkeit und aufgezwungener Heiterkeit zu kanalisieren.
Vielleicht können wir durch den Dichter Rumi ermutigt werden, unsere Emotionen zurückzugewinnen. Wie viele Mystiker verwendet er den Fisch als Symbol für den Menschen sowie das Wasser und den Ozean als Darstellungen von Gefühlen und der fühlenden Natur.
… Geh nicht weg.
Schau, Fisch, auf den Ozean hinter dir
Geh zurück, woher du kamst, Meeresgetier.
Du hörst das Rauschen des Wassers und weißt, wo du sein willst
Warum wartest du? Du warst an Orten, wo du bereust, gewesen zu sein,
Wegen Geld und solchen Dingen. Tu das nie wieder.
Das Wasser spricht: »Lebe hier.
Trage mich nicht herum in Eimern und Töpfen.«
Falsche Pflichten! Lege eine Pause ein und komme zur Ruhe.
Grundlegende Dynamik der emotionalen Natur
Das wahre Gegenteil von Depression ist nicht Fröhlichkeit oder Schmerzfreiheit, sondern Vitalität, die Freiheit, unmittelbare Gefühle zu erleben. Es gehört zum Kaleidoskop des Lebens, dass Gefühle nicht nur heiter, schön und gut sind .
— Alice Miller
Wir verbessern unsere Fähigkeit, ganzheitlich zu fühlen, durch das Verständnis der vier entscheidenden Dynamiken der emotionalen Natur: Ganzheitlichkeit, Polarität, Ambivalenz und Fluss. Diese Dynamiken werden in diesem Kapitel untersucht, um zu veranschaulichen, auf welche grundlegende Art und Weise sich das Fühlen vom Denken unterscheidet.
Obwohl Denken und Fühlen viele unterschiedliche Funktionen erfüllen, ist es auffallend, dass sie sich auf bereichernde Weise ergänzen. Das Denken verbessert zum Beispiel unsere Fähigkeit, unsere Gefühle zu vermitteln, wenn wir auf poetische Weise schreiben oder sprechen, während das Fühlen das Verständnis unserer Zuhörer für uns verbessert, wenn wir leidenschaftlich sprechen.
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